Prinzessin Tara steht, sich an einer Birke festhaltend, mit großen, fragenden Augen vor Paul. Als der sich von seinem Schreck erholt hat, antwortet er ihr endlich auf ihre Frage: „Ich weiß nicht, was das ist. Ich habe es auch eben erst entdeckt.“ Tara tritt zögernd einen Schritt vor, dann noch einen. „Kann man es anfassen, Paul?“, flüstert sie. Der Müller nimmt die Hand der Prinzessin und legt sie auf das Blau. „Es ist kalt und hart“, flüstert er zurück. Langsam zieht sie ihre Hand wieder zu sich heran und betrachtet sie. „Also, es färbt nicht ab, es wird auch nicht größer oder kleiner und es versucht auch nicht, uns in sich hineinzuziehen. Es steht einfach da, wie eine Wand. Wände haben einen Anfang und ein Ende und Öffnungen.“ Tara schaut nachdenklich in das Blau. „Also gut“, sagt Paul, „nehmen wir unsere Pferde und laufen an dem Blau entlang. Vielleicht gibt es ja wirklich einen Eingang und eine ganz einfache Erklärung für das hier.“ Zuversichtlich wollte er klingen, entschlossen und voller Wagemut – für Tara und das ganze Königreich! Was er aber tatsächlich fühlte waren Angst und Ratlosigkeit, und so hatte es wohl auch geklungen, Tara`s Blick nach zu urteilen. Schweigend gehen sie in das Birkenwäldchen, zurück zu Mo. Diese ist nicht mehr allein, neben ihr steht Tara`s Stute Dana. Die beiden kennen sich, denn Mo ist Danas Tante. Ob Pferde überhaupt um Verwandtschaften wissen und was Familie und eine Großfamilie ist? Völlig egal! Sie machen wenigstens nicht so viel Gewese darum! Sie stammen jedenfalls beide aus der Zucht des Königs. Als Paul seine Anna heiratete, war Mo dessen Hochzeitsgeschenk. Ja, so war er, ihr König! Was heißt hier – war! Paul schreckt vor seinen eigenen Gedanken zurück, gut, dass Tara diese nicht hören kann! Er streicht Mo über die Stirn und greift die Zügel, dann gehen sie los, alle vier, langsam und schweigend.
Plötzlich fragt Paul mitten in die Stille hinein: „Warum bist du eigentlich nicht in der Burg? Seit letztem Jahr bist du doch auch ein Mitglied des Rates der Ältesten.“ „Stimmt“, sagt die Prinzessin, „aber ich wollte mir vorher ein eigenes Bild von der Katastrophe machen. Auf dem Rückweg hat sich Dana etwas eingetreten, so dass ich eine Pause einlegen und erstmal ihren Huf reinigen musste. Zum Glück habe ich den Kieselstein nach einer Weile fassen und herausziehen können. Als die Turmuhr zwölf schlug, war ich gerade am Birkenwäldchen angekommen.“ „Das ist ja ungefähr so wie bei mir“, murmelt Paul. „Wie – Wie bei dir?“, fragt Tara und bleibt stehen. „Meine Mo hat sich beim Sumpf vertreten und wir sind dann gelaufen.“ „Ah“, sagt Tara und ein verschmitztes Lächeln huscht über ihr Gesicht, “deshalb der edle Seidenverband!“ Paul dreht sich zu ihr um. „Komm, wir müssen weiter.“ Wieder gehen sie schweigend nebeneinander her, ein jeder in seinen Gedanken versunken. Nach einer Weile hebt Paul den Blick auf Tara. Wie ähnlich sie doch ihrer Mutter sieht! Er kann sich noch gut an die Königin erinnern. Jeden Montagnachmittag, wenn der Unterricht aus war, kam die Königin in die Schule und hatte für alle Kinder Kuchen dabei. Für außerordentliche Leistungen gab es auch mal ein Stück mehr, aber Bestrafungen gab es nie! Die Königin hatte außerdem „Was ich am besten kann, gebe ich gerne weiter!“ angeregt und anfangs persönlich geleitet. Nach ein paar Wochen führten wir Kinder diesen Wissensaustausch dann in Eigenregie – sie war schon eine außergewöhnliche Frau! Dann war Tara unterwegs. Das Herrscherpaar war überglücklich, warteten sie doch schon Jahre auf Nachwuchs! Bei der Geburt gab es Komplikationen, welche die Königin nicht überlebte. Tiefe Trauer ergriff das gesamte Land und der König wäre beinahe daran zerbrochen. Aber da war ja noch Prinzessin Tara. Für sie kehrte der Vater aus der Lethargie ins Leben zurück. Und das war Leben, denn Tara hatte Energie für drei!
„Paul!“ Tara zieht an seinem Ärmel. „Wir sind wieder am Birkenwäldchen.“ Enttäuschung steht ihr ganz deutlich ins Gesicht geschrieben und riesige Fragezeichen kommen aus ihren großen, dunklen Augen förmlich auf ihn zu.
Die große Höhle hoch oben im Grenzgebirge des Königreiches Mawu wird erfüllt von einem lauten, hämischen Lachen, welches alles und jeden erschaudern lässt! Der Zauberer Ödun steht vor einem Bergkristall, der mannshoch aus der Felswand ragt. In diesem kann er alles sehen, was im Königreich Mawu geschieht. Mawu – wie er diesen Namen hasst und alles, was er verkörpert! Diese Glückseligkeit, Liebe und Frieden, säusel, säusel – alles Quatsch! Wer keine Furcht und keinen Kampf kennt, weiß den Frieden doch gar nicht zu schätzen! Wer noch nie misshandelt und verstoßen wurde, hat sich keine Liebe verdient! So läuft das schon immer und das wird auch in alle Ewigkeit so bleiben, dafür wird er schon sorgen, er, der große Ödun! Dieses Erbe hat er von seinem Vater übernommen. Der wurde zwar in der Schlacht um das Tal von der Ewigen Mawu vernichtend geschlagen, aber nun war seine Stunde gekommen! Darauf hatte er sein Leben lang gewartet, sich im Höhlenlabyrinth versteckt gehalten, Vaters Aufzeichnungen so gut es ging studiert und das Buch der Zaubersprüche auswendig gelernt. Dabei war es ganz hilfreich, dass ein paar von Vaters Lakaien überlebt hatten, besonders zu Beginn, denn der erste Tag des Krieges war auch der Tag, an welchem er geboren wurde.
Ödun holt tief Luft - geräuschvoll saugt er sie durch seine Nase ein. „Ah, wie ich das liebe, diesen Duft nach Angst, der langsam aus dem Tal aufsteigt!“ Vom Höhleneingang her nähert sich eine kleine, gebückte Gestalt. „Was ist, Lakai?“ Unbeherrscht, wie immer, brüllt er seinen letzten ihm verbliebenen Diener an. „Die Quelle ist im Blauen Zauber erstarrt, wie ihr es wünschtet, mein Großer Zauberer! Den Weg zu ihr habe ich, wie von euch befohlen, mit Geröll verschüttet und das Blau mit Sand und Laub bedeckt.“ Triumphierend streckt Ödun die Arme in die Höhe: „So sei es denn! Bald gehört das Tal mir und alles, was da kreucht und fleucht!“ Und sein betont grausames Lachen ließ die Luft in der Höhle erzittern, sodass sogar sein Lakai Deckung hinter einem Felsen sucht. „Die Burg und der Großer Rat sind auch im Blauen Zauber gefangen. Da unten gibt es nur noch kleine, dumme Kinder!“ Hämisch grinsend tritt Ödun an den Eingang der Höhle. Sein Lakai hebt vorsichtig den Kopf hinter dem Felsen hervor und wagt es zu fragen: „Und was ist mit den Angetrauten der Ältesten?“ Der Zauberer wendet sich ihm zu: „Was soll mit denen sein, das sind doch nur alte, schwache Weiber!“ Dann nimmt er sofort wieder seine triumphale Haltung ein und genießt den Gedanken an seinen überragenden Sieg! Der Lakai setzt sich kopfschüttelnd hinter den Felsen und murmelt: „Wenn ihr euch da mal nicht irrt!“
Anna steht am Fenster und versucht zu erkennen, was in ihrem Kristall zu sehen ist. Es scheint eine menschliche Gestalt zu sein, sehr groß und dunkel gekleidet. Diese dreht ihr anscheinend den Rücken zu, breitet nun die Arme aus und verharrt in dieser Haltung. Plötzlich bewegt sich die Gestalt wieder, dreht sich um und kommt irgendwie immer näher. Jetzt kann Anna langsam die Konturen eines Gesichts ausmachen – es starrt sie an! Erschrocken bedeckt Anna das Amulett mit ihrer Hand. Diese Augen! Ein eiskalter Schauer erfasst sie und schüttelt sie richtig durch. Diese Augen, irgendwo hatte sie die schon mal gesehen, wenn sie nur wüsste, wo?! Ganz in diesen Gedanken versunken lässt sie das Amulett wieder in ihre Bluse gleiten und geht zurück zum Tisch. Dort steht noch die Schüssel mit dem halbfertigen Kuchenteig und obenauf schwimmen die Eier. Die beiden Dottersehen aus wie zwei Augen – Augen! Mechanisch greift sie nach dem Holzlöffel und beginnt zu rühren, doch ihr Blick geht ins Leere und in ihrem Kopf ist immer noch das Bild präsent...
Ja, genau! Da war es! Sie wusste doch, dass sie diese Augen schon einmal gesehen hatte! In einem Buch ihrer alten Lehrerin. `Sagen und Legenden aus der Alten Zeit` heißt es und darin ist eine Abbildung des großen, bösen Zauberers mit genau diesen Augen! „Aber er wurde doch von der Ewigen Mawu besiegt und zerfiel zu Staub“, sagt Anna laut vor sich hin. Jäh wird sie aus ihren Gedanken gerissen, denn ihr Mann und Prinzessin Tara stürmen in die Küche. „Anna“, Paul ringt nach Atem. Tara geht es nicht besser, denn sie sind den ganzen Weg gerannt, im Eiltempo, in Taras Eiltempo! Mo und Dana haben sie hinter dem Birkenwäldchen am Rand des Sumpfes festgemacht. Dort können sie etwas grasen und sich in Ruhe erholen. „Anna“, Paul holt tief Luft. „Es ist schrecklich, unerklärlich, mystisch“, wieder eine Atempause, „die Burg und ihre allernächste Umgebung - “, in diese Atempause klingt sich Tara ein und beendet den Satz - „sind in einem hellblauen Etwas gefangen! ES sitzt wie eine Käseglocke darüber! ES ist hart, glatt, kalt und rund!“ Anna hat inzwischen aufgehört den Teig zu rühren, sie ist auf die beiden zugegangen und schiebt Tara einen Stuhl zurecht. Nun steht sie einfach da und schaut von einem zum anderen: „So ein Bild ist auch in dem alten Buch. Halbkugelförmig liegt der Blaue Zauber über dem Land.“ „ Was sagst du da?“, fragend schaut Paul seine Frau an. Anna zieht ihr Amulett an seiner Kette wieder hervor. „Vorhin ist der Kristall ganz warm geworden und als ich ihn mir ansah, war er ungewöhnlich klar und etwas hat sich in ihm bewegt.“ Paul nimmt das Amulett in seine Hand und betrachtet es ausgiebig. Er kennt es gut, denn Anna legt es nie ab. Er kann nichts außergewöhnliches entdecken, der Stein sieht aus wie immer, na ja, ein bisschen wärmer als sonst ist er. Während er das Amulett aus seiner Hand gleiten lässt, schaut er Anna fragend an. „Da“, Anna schaut in den Kristall. „Das ist doch eine dunkle Gestalt! Sie läuft langsam hin und her.“ Nun beugt sich auch Prinzessin Tara vor, um besser sehen zu können. „Also, ich sehe nur einen sehr klaren und reinen Bergkristall“, meint Tara, Paul nickt zustimmend. „Das kann doch nicht sein! Ich sehe es doch ganz deutlich!“, ruft Anna aufgeregt. „Da, jetzt wendet die Gestalt sich mir wieder zu, genau wie beim ersten Mal! Oh, diese Augen!“ Anna lässt das Amulett schnell wieder in ihre Bluse gleiten, denn sie hat das Gefühl, dass die Gestalt sie sehen kann. Mit leerem Blick starrt sie auf den Boden. Paul ergreift ihre Hände, „Anna, Anna, was ist mit dir und was sind das für Augen?“ Langsam schaut Anna zu ihm auf, dann sagt sie mit ruhiger, fester Stimme: „Los, kommt ihr beiden, wir gehen zu unserer alten Lehrerin!“
Plötzlich fragt Paul mitten in die Stille hinein: „Warum bist du eigentlich nicht in der Burg? Seit letztem Jahr bist du doch auch ein Mitglied des Rates der Ältesten.“ „Stimmt“, sagt die Prinzessin, „aber ich wollte mir vorher ein eigenes Bild von der Katastrophe machen. Auf dem Rückweg hat sich Dana etwas eingetreten, so dass ich eine Pause einlegen und erstmal ihren Huf reinigen musste. Zum Glück habe ich den Kieselstein nach einer Weile fassen und herausziehen können. Als die Turmuhr zwölf schlug, war ich gerade am Birkenwäldchen angekommen.“ „Das ist ja ungefähr so wie bei mir“, murmelt Paul. „Wie – Wie bei dir?“, fragt Tara und bleibt stehen. „Meine Mo hat sich beim Sumpf vertreten und wir sind dann gelaufen.“ „Ah“, sagt Tara und ein verschmitztes Lächeln huscht über ihr Gesicht, “deshalb der edle Seidenverband!“ Paul dreht sich zu ihr um. „Komm, wir müssen weiter.“ Wieder gehen sie schweigend nebeneinander her, ein jeder in seinen Gedanken versunken. Nach einer Weile hebt Paul den Blick auf Tara. Wie ähnlich sie doch ihrer Mutter sieht! Er kann sich noch gut an die Königin erinnern. Jeden Montagnachmittag, wenn der Unterricht aus war, kam die Königin in die Schule und hatte für alle Kinder Kuchen dabei. Für außerordentliche Leistungen gab es auch mal ein Stück mehr, aber Bestrafungen gab es nie! Die Königin hatte außerdem „Was ich am besten kann, gebe ich gerne weiter!“ angeregt und anfangs persönlich geleitet. Nach ein paar Wochen führten wir Kinder diesen Wissensaustausch dann in Eigenregie – sie war schon eine außergewöhnliche Frau! Dann war Tara unterwegs. Das Herrscherpaar war überglücklich, warteten sie doch schon Jahre auf Nachwuchs! Bei der Geburt gab es Komplikationen, welche die Königin nicht überlebte. Tiefe Trauer ergriff das gesamte Land und der König wäre beinahe daran zerbrochen. Aber da war ja noch Prinzessin Tara. Für sie kehrte der Vater aus der Lethargie ins Leben zurück. Und das war Leben, denn Tara hatte Energie für drei!
„Paul!“ Tara zieht an seinem Ärmel. „Wir sind wieder am Birkenwäldchen.“ Enttäuschung steht ihr ganz deutlich ins Gesicht geschrieben und riesige Fragezeichen kommen aus ihren großen, dunklen Augen förmlich auf ihn zu.
Die große Höhle hoch oben im Grenzgebirge des Königreiches Mawu wird erfüllt von einem lauten, hämischen Lachen, welches alles und jeden erschaudern lässt! Der Zauberer Ödun steht vor einem Bergkristall, der mannshoch aus der Felswand ragt. In diesem kann er alles sehen, was im Königreich Mawu geschieht. Mawu – wie er diesen Namen hasst und alles, was er verkörpert! Diese Glückseligkeit, Liebe und Frieden, säusel, säusel – alles Quatsch! Wer keine Furcht und keinen Kampf kennt, weiß den Frieden doch gar nicht zu schätzen! Wer noch nie misshandelt und verstoßen wurde, hat sich keine Liebe verdient! So läuft das schon immer und das wird auch in alle Ewigkeit so bleiben, dafür wird er schon sorgen, er, der große Ödun! Dieses Erbe hat er von seinem Vater übernommen. Der wurde zwar in der Schlacht um das Tal von der Ewigen Mawu vernichtend geschlagen, aber nun war seine Stunde gekommen! Darauf hatte er sein Leben lang gewartet, sich im Höhlenlabyrinth versteckt gehalten, Vaters Aufzeichnungen so gut es ging studiert und das Buch der Zaubersprüche auswendig gelernt. Dabei war es ganz hilfreich, dass ein paar von Vaters Lakaien überlebt hatten, besonders zu Beginn, denn der erste Tag des Krieges war auch der Tag, an welchem er geboren wurde.
Ödun holt tief Luft - geräuschvoll saugt er sie durch seine Nase ein. „Ah, wie ich das liebe, diesen Duft nach Angst, der langsam aus dem Tal aufsteigt!“ Vom Höhleneingang her nähert sich eine kleine, gebückte Gestalt. „Was ist, Lakai?“ Unbeherrscht, wie immer, brüllt er seinen letzten ihm verbliebenen Diener an. „Die Quelle ist im Blauen Zauber erstarrt, wie ihr es wünschtet, mein Großer Zauberer! Den Weg zu ihr habe ich, wie von euch befohlen, mit Geröll verschüttet und das Blau mit Sand und Laub bedeckt.“ Triumphierend streckt Ödun die Arme in die Höhe: „So sei es denn! Bald gehört das Tal mir und alles, was da kreucht und fleucht!“ Und sein betont grausames Lachen ließ die Luft in der Höhle erzittern, sodass sogar sein Lakai Deckung hinter einem Felsen sucht. „Die Burg und der Großer Rat sind auch im Blauen Zauber gefangen. Da unten gibt es nur noch kleine, dumme Kinder!“ Hämisch grinsend tritt Ödun an den Eingang der Höhle. Sein Lakai hebt vorsichtig den Kopf hinter dem Felsen hervor und wagt es zu fragen: „Und was ist mit den Angetrauten der Ältesten?“ Der Zauberer wendet sich ihm zu: „Was soll mit denen sein, das sind doch nur alte, schwache Weiber!“ Dann nimmt er sofort wieder seine triumphale Haltung ein und genießt den Gedanken an seinen überragenden Sieg! Der Lakai setzt sich kopfschüttelnd hinter den Felsen und murmelt: „Wenn ihr euch da mal nicht irrt!“
Anna steht am Fenster und versucht zu erkennen, was in ihrem Kristall zu sehen ist. Es scheint eine menschliche Gestalt zu sein, sehr groß und dunkel gekleidet. Diese dreht ihr anscheinend den Rücken zu, breitet nun die Arme aus und verharrt in dieser Haltung. Plötzlich bewegt sich die Gestalt wieder, dreht sich um und kommt irgendwie immer näher. Jetzt kann Anna langsam die Konturen eines Gesichts ausmachen – es starrt sie an! Erschrocken bedeckt Anna das Amulett mit ihrer Hand. Diese Augen! Ein eiskalter Schauer erfasst sie und schüttelt sie richtig durch. Diese Augen, irgendwo hatte sie die schon mal gesehen, wenn sie nur wüsste, wo?! Ganz in diesen Gedanken versunken lässt sie das Amulett wieder in ihre Bluse gleiten und geht zurück zum Tisch. Dort steht noch die Schüssel mit dem halbfertigen Kuchenteig und obenauf schwimmen die Eier. Die beiden Dottersehen aus wie zwei Augen – Augen! Mechanisch greift sie nach dem Holzlöffel und beginnt zu rühren, doch ihr Blick geht ins Leere und in ihrem Kopf ist immer noch das Bild präsent...
Ja, genau! Da war es! Sie wusste doch, dass sie diese Augen schon einmal gesehen hatte! In einem Buch ihrer alten Lehrerin. `Sagen und Legenden aus der Alten Zeit` heißt es und darin ist eine Abbildung des großen, bösen Zauberers mit genau diesen Augen! „Aber er wurde doch von der Ewigen Mawu besiegt und zerfiel zu Staub“, sagt Anna laut vor sich hin. Jäh wird sie aus ihren Gedanken gerissen, denn ihr Mann und Prinzessin Tara stürmen in die Küche. „Anna“, Paul ringt nach Atem. Tara geht es nicht besser, denn sie sind den ganzen Weg gerannt, im Eiltempo, in Taras Eiltempo! Mo und Dana haben sie hinter dem Birkenwäldchen am Rand des Sumpfes festgemacht. Dort können sie etwas grasen und sich in Ruhe erholen. „Anna“, Paul holt tief Luft. „Es ist schrecklich, unerklärlich, mystisch“, wieder eine Atempause, „die Burg und ihre allernächste Umgebung - “, in diese Atempause klingt sich Tara ein und beendet den Satz - „sind in einem hellblauen Etwas gefangen! ES sitzt wie eine Käseglocke darüber! ES ist hart, glatt, kalt und rund!“ Anna hat inzwischen aufgehört den Teig zu rühren, sie ist auf die beiden zugegangen und schiebt Tara einen Stuhl zurecht. Nun steht sie einfach da und schaut von einem zum anderen: „So ein Bild ist auch in dem alten Buch. Halbkugelförmig liegt der Blaue Zauber über dem Land.“ „ Was sagst du da?“, fragend schaut Paul seine Frau an. Anna zieht ihr Amulett an seiner Kette wieder hervor. „Vorhin ist der Kristall ganz warm geworden und als ich ihn mir ansah, war er ungewöhnlich klar und etwas hat sich in ihm bewegt.“ Paul nimmt das Amulett in seine Hand und betrachtet es ausgiebig. Er kennt es gut, denn Anna legt es nie ab. Er kann nichts außergewöhnliches entdecken, der Stein sieht aus wie immer, na ja, ein bisschen wärmer als sonst ist er. Während er das Amulett aus seiner Hand gleiten lässt, schaut er Anna fragend an. „Da“, Anna schaut in den Kristall. „Das ist doch eine dunkle Gestalt! Sie läuft langsam hin und her.“ Nun beugt sich auch Prinzessin Tara vor, um besser sehen zu können. „Also, ich sehe nur einen sehr klaren und reinen Bergkristall“, meint Tara, Paul nickt zustimmend. „Das kann doch nicht sein! Ich sehe es doch ganz deutlich!“, ruft Anna aufgeregt. „Da, jetzt wendet die Gestalt sich mir wieder zu, genau wie beim ersten Mal! Oh, diese Augen!“ Anna lässt das Amulett schnell wieder in ihre Bluse gleiten, denn sie hat das Gefühl, dass die Gestalt sie sehen kann. Mit leerem Blick starrt sie auf den Boden. Paul ergreift ihre Hände, „Anna, Anna, was ist mit dir und was sind das für Augen?“ Langsam schaut Anna zu ihm auf, dann sagt sie mit ruhiger, fester Stimme: „Los, kommt ihr beiden, wir gehen zu unserer alten Lehrerin!“