Das Balzverhalten der Rasenmäher.
Eine Kurzgeschichte.
Prolog – Ein sonniger Samstag
Es ist ein unscheinbarer Tag im Vorort. Der Himmel zeigt sich makellos blau, ein lauesLüftchen weht, und die Sonne hat gerade genug Kraft, um in Männerhirnen das uralte
Signal auszulösen: „Es ist Zeit. Das Gras muss fallen.“
Dieses Signal wirkt stärker als jeder Wecker, stärker als der Ruf nach Kaffee. Kaum sind
die Temperaturen über 18 Grad geklettert, recken die ersten Nachbarn ihre Köpfe über
die Hecken, als würden sie nach dem Startschuss für ein seltsames Wettrennen spähen.
Kapitel 1 – Der erste Ruf
Immer gibt es einen, der das Ritual eröffnet. Ein einzelnes, zaghaftes Brummmmmmertönt aus der Garage Nummer 12. Noch leise, noch unsicher. Doch es ist genug, um
die anderen Tiere im Habitat „Reihenhaussiedlung“ aufzuschrecken.
Garage 14 antwortet prompt. Ein wütender Aufschrei des Motors, röchelnd, hustend,
aber stolz: Rrrrrrrmmm!
Wenige Minuten später stimmt auch Hausnummer 18 ein. Dann 20. Schließlich 22, 24
und 26.
Innerhalb kürzester Zeit liegt ein ohrenbetäubendes Konzert über der Siedlung. Ein Chor
der Zylinder. Ein orchestraler Angriff auf die Stille.
Kapitel 2 – Das Revier wird markiert
Jetzt beginnt der eigentliche Tanz. Der Rasenmäherführer zieht mit ernster Miene seineBahnen.
Vor – zurück.
Vor – zurück.
Fast hypnotisch bewegt er sich über die Fläche, und jeder Schritt, jeder Schwung des
Mähers signalisiert: „Dies ist mein Territorium. Hier herrsche ich. Wehe dem
Löwenzahn.“
Einige besonders wagemutige Exemplare wagen diagonale Muster. Andere schwören
auf streng lineare Streifen. Ein Nachbar hat sogar versucht, ein Schachbrettmuster in
den Rasen zu fräsen. Fachlich unnötig – biologisch gesehen aber ein klares
Imponiergehabe.
Kapitel 3 – Die Balzgesänge
Das sonore Brummen allein reicht nicht. Wer Eindruck schinden will, drückt zusätzlichden Gashebel.
Wrrrrrrrrrrrm! – eine Machtdemonstration.
Darauf folgt sofort eine Antwort vom Nachbargrundstück: WRRMMMMMMM! – lauter,
schriller, länger gehalten.
Es ist, als hätten sie die Motoren zu Trompeten umfunktioniert, mit denen sie einander
Mut und Stärke zuschreien.
Besonders interessant ist die nonverbale Kommunikation: ein stolzes Nicken über die
Hecke hinweg, begleitet vom kurzen Anheben der Sonnenbrille. Der Subtext: „Ja,
Bruder, auch ich mähe. Wir sind eins im Rhythmus.“
Kapitel 4 – Die Weibchen
Währenddessen beobachten die Partnerinnen das Schauspiel aus sicherer Entfernung.Meist vom Küchenfenster, manchmal auch mit verschränkten Armen auf der Terrasse.
Ihre Gesichter verraten alles: Mischung aus Resignation und stillem Spott. Sie wissen,
dass das Gras nächste Woche wieder sprießt. Sie wissen, dass diese „Pflegearbeit“ nur
ein Vorwand ist, um für ein paar Stunden mit einem brüllenden Motor allein gelassen zu
werden.
Manche Weibchen kontern das Schauspiel, indem sie laut die Wäscheleine bestücken.
Frisch gewaschene Laken, die wild im Mäherwind flattern, sind die heimliche Rache: ein
stilles Signal, dass nicht alle beeindruckt sind.
Kapitel 5 – Die Königsdisziplin
Es gibt Momente, in denen das Ritual einen Höhepunkt erreicht.Dann nämlich, wenn ein Exemplar den Rasenkantenschneider hervorholt. Ein grelles,
kreischendes Krrrrrrrrrr! zerreißt die Luft.
Alle anderen verstummen kurz. Denn hier geschieht etwas Besonderes. Die
Königsdisziplin wird zelebriert: das akribische Stutzen der Rasenkanten.
Man könnte fast sagen, das ist der Moment, in dem der Hahn auf dem Misthaufen kräht.
Hier wird die Hackordnung bestimmt. Denn wer Kanten schneidet, hat nicht nur Zeit,
sondern auch den Willen, die Dinge auf die Spitze zu treiben.
Kapitel 6 – Der Sozialvergleich
Wenn die Sonne hoch am Himmel steht und der Schweiß über die Stirn läuft, beginnt diezweite Phase: das gegenseitige Beobachten.
Jeder lugt verstohlen über den Zaun. Wie kurz ist der Rasen des Nachbarn? Welche
Muster hat er gewählt? Hat er vielleicht sogar vertikutiert?
Einige tun beiläufig so, als müssten sie nur kurz den Fangkorb entleeren. In Wahrheit ist
es eine Inspektionsrunde. Andere leiten scheinbar zufällig eine Pause ein, um mit
verschränkten Armen die Arbeit des Gegenübers zu begutachten.
Ein unausgesprochener Wettbewerb, in dem es keine Sieger gibt – außer vielleicht die
Hersteller von Benzin und Motoröl.
Kapitel 7 – Der Nachwuchs
Manchmal gesellt sich der Nachwuchs dazu. Kleinere Exemplare mit Plastikmähern, dieklackernde Geräusche von sich geben.
Die Kinder stolzieren neben ihren Vätern her, und für einen Augenblick wirkt es, als sei
das ganze Ritual nichts weiter als ein generationsübergreifendes Theaterstück. Die
Kleinen lernen: So klingt Männlichkeit. So klingt ein Samstag.
Kapitel 8 – Störungen im Ritual
Doch nicht immer läuft alles harmonisch ab.Manchmal tritt das bedrohliche Geräusch des Nachbars auf, der nicht mäht, sondern
grillt. Das Zischen von Fett auf Kohlen ist eine Provokation, die den Rhythmus stört.
Noch schlimmer: das Heulen eines Laubbläsers. Ein artfremdes Geräusch, das sofort
Unruhe in die Herde bringt.
In seltenen Fällen erscheint sogar ein Radfahrer, der ruft: „Muss das denn sein, bei DEM
Lärm?“ – doch dieser Störenfried wird kollektiv ignoriert. Er gehört nicht zum Stamm.
Kapitel 9 – Der Höhepunkt
Nach Stunden des Brummens, Brüllens und Schwitzens ist es so weit. Die Rasenflächenglänzen, die Kanten sind scharf, die Muster akkurat.
Die Motoren verstummen langsam. Ein friedliches Summen der Insekten ersetzt den
Krach.
Die Mähenden stehen erschöpft, aber zufrieden am Rand ihrer Flächen. Manche klopfen
sich selbst auf die Schulter, andere nicken stumm in Richtung Nachbar.
Es ist geschafft. Der Tanz ist beendet.
Kapitel 10 – Das große Schweigen
Jetzt folgt die Nachruhe. Die Teilnehmer verschwinden in ihre Häuser, holen sich einBier aus dem Kühlschrank und lassen sich auf die Terrasse oder den Balkon fallen.
Von dort aus betrachten sie das frisch gemähte Grün – ein Spiegelbild ihrer eigenen
Mühen. Für einen kurzen Augenblick glauben sie, Herrscher über die Natur zu sein.
Doch schon im Verborgenen regt sich das nächste Kapitel. Denn Gras kennt kein
Erbarmen. Es wächst, langsam, unaufhaltsam. Und mit jedem Millimeter, den es sich
zurückerobert, wächst auch die Unruhe in den Männern.
Das nächste sonnige Wochenende wird kommen.
Das nächste Ritual steht bevor.
Epilog – Die unendliche Wiederkehr
Und so wiederholt sich das Schauspiel, Woche für Woche, Jahr für Jahr. Es ist einKreislauf, der niemals endet.
Manche nennen es Gartenpflege. Andere nennen es Zwangshandlung.
Doch wir, die stillen Beobachter dieser Spezies, wissen es besser:
Es ist Balz.
Ein Ritual.