Hospiz
Diese für mich höchstemotionale Episode meines Lebens beginnt damit, wie mir meine liebe Mutter mitteilte, dass sie in Bälde in ein Hospiz müsste. Ich wusste zu dem Zeitpunkt gar nicht genau was das ist – ein Ort den Menschen aufsuchen, um in Würde sterben zu können, in den allermeisten Fällen eine Reise ohne Wiederkehr. Es bedeutete also: „Mein Sohn, ich werde nicht mehr lange leben.“ Sie hatte schon über ein Jahr heldenhaft gegen den Krebs gekämpft, mit mehreren schweren Operationen, Chemotherapie und all ihren Nebenwirkungen wie dauerhafter Übelkeit, Haarausfall etc. Da diese teuflische Krankheit ihren Körper schon so stark angegriffen hatte, konnte sie nur noch mit einem künstlichen Darmausgang weiterleben. Ich habe noch einen Satz von ihr im Ohr, wenn ich an diesen zurück denke, habe ich Tränen in den Augen. Es war nach der ersten langwierigen OP, sie sagte voller Hoffnung am Telefon zu mir: „Weißt Du was? Ich habe es heute schon geschafft, zwei Treppen hinauf- und wieder herunterzulaufen.“ Sie war so unglaublich tapfer. Ich habe schon Menschen mit dieser Diagnose in schwere Depressionen verfallen sehen, einmal habe ich sogar erfahren, dass sich jemand aufgehängt hatte, weil er es sich nicht zutraute, diesen Kampf zu überstehen.
Dann hatte ich verstanden, was die Aussage vom Beginn der Geschichte zu bedeuten hatte. Im Nachhinein bin ich überrascht von mir selbst, dass ich vor Verlustangst und Schmerz nicht durchgedreht bin, denn zu dieser Zeit war ich psychisch noch sehr labil. Es freut mich, dass ich meiner Mutter etwas von dem zurückgeben konnte, was sie mir alles geschenkt und ermöglicht hat, auch wenn es nur ein kleiner Teil war.
In diesem Hospiz herrschte wider Erwarten eine recht freundliche Atmosphäre, einige liebenswürdige ehrenamtliche Damen, die in Rente waren, kümmerten sich um Essen und Küche, die anderen Mitarbeiter waren freundliche und sehr hilfsbereite Menschen. Ich bewundere deren Kraft, dem Tod an jedem Tag zu begegnen, ohne dabei selbst seelischen Schaden zu erleiden. Auch die beste Freundin meiner Mutter sowie ihr Lebenspartner halfen in aufopfernder Weise. Und doch ist so ein Hospiz natürlich auch ein Ort des Schreckens. Eine Mitbewohnerin hatte ein großes Krebsgeschwür auf der Wange, eine andere war dabei, langsam und qualvoll zu ersticken, weil ihre Lunge schon unheilbar angegriffen war. An einem Abend, als ich im Flur wartete, weil meine Mutter versorgt wurde, während ich sie durch die Tür vor Schmerzen wimmern hören konnte, kamen plötzlich zwei Männer mit einem großen schwarzen Sarg um die Ecke, von diesem Moment hab ich noch mehrmals geträumt. Meine Mama war schon recht geschwächt von dem kräftezehrenden Kampf. Trotzdem habe ich sie niemals klagen oder jammern hören. Dann, als es schon absehbar schien, dass sie nicht mehr für lange Zeit bei mir sein sollte, durfte ich in ihrem Zimmer mit übernachten, sie mit Schmerzmitteln, ich bis obenhin abgefüllt mit Sedativa.
Sie hatte in dieser Zeit auch zwei starke Krampfanfälle und ich noch wenig bis gar keine Hoffnung mehr. Ich saß weinend im Büro der Mitarbeiter, wo mich eine unheimlich empathische junge Frau tröstete und mir einen kleinen Engel aus Metall schenkte. Diesen Engel hab ich später heimlicherweise in ihr Grab gleiten lassen.
Doch das Wunder geschah, eine Phase der Erholung, die Chemotherapie war hilfreich gewesen und sie sammelte tatsächlich noch einmal Kräfte, sogar ihre Haare begannen wieder zu wachsen.
Das folgende halbe Jahr war noch einmal ein Geschenk, sie verließ den Ort zum Sterben und bezog ein kleines Zimmer in einem Wohnheim. Die zweite Krebsattacke überstand sie dann aber nicht mehr, es wuchsen wieder Tumore in ihrem Körper, keine Chance diesmal.
Ich bin zutiefst dankbar für diesen Menschen, der mir das Leben schenkte und immer für mich da war, obwohl ich beileibe kein einfacher Sohn war. Und auch den Menschen in dem Hospiz danke ich von Herzen, solcherlei Engagement ist soviel mehr wert als jeder Managerjob, nur schlechter bezahlt. Es geht zum Glück nicht um das Geld, sondern um Idealismus und Großherzigkeit.