Reisebericht aus Glanzhall
-Ein Abgrund aus Marmor und Fachwerk
Verfasst von Thamir aus Finsterhall, 3. Tag nach Ankunft in Glanzhall
Ich bin angekommen. Nicht an einem Ort, sondern an einem Widerspruch.
Seitdem ich denken kann, hörte ich die Geschichten von Glanzhall. Die Händler, die aus dem Osten kamen, sprachen mit zitternder Stimme von der „ewigen Stadt aus Stein und Feuer“. Priester in Finsterhall warnten uns in ihren düsteren Predigten: "Geht nicht nach Glanzhall – dort brennt die Welt." Und doch brannten meine Gedanken seit Jahren vor Neugier. Ich wollte wissen, ob all das, was man sich flüsternd erzählte, wahr war. Und nun, da ich hier bin, kann ich sagen – nein, es war nicht wahr. Es ist schlimmer.
Ich habe ein kleines Zimmer in einer Taverne am Marktplatz gemietet. Der Wirt ist freundlich. Zu freundlich. Seine Tochter verbeugt sich bei jedem Gruß, seine Frau serviert das Brot mit gesenktem Blick. Sie reden nicht viel, aber wenn sie reden, zitieren sie Verse. Aus dem Buch des Propheten. Ohne Aufforderung. Ohne Miene. Ohne Zweifel.
Der Marktplatz selbst ist ein Fest für das Auge. Gepflastert mit hellem Stein, flankiert von pastellfarbenen Fachwerkhäusern, deren Balken in filigranen Mustern geschnitzt sind. Überall wehen Banner – rot, gold, weiß. Kinder laufen lachend zwischen den Ständen umher, Jongleure werfen ihre Fackeln, Musik erklingt von irgendwo. Es wirkt... wunderschön. Und doch liegt unter jeder Farbe, unter jedem Akkord, etwas Unbeschreibliches. Etwas, das atmet.
Heute wohnte ich einem öffentlichen Prozess bei. Ich sage „Prozess“, aber es war mehr eine Messe – ein Ritual. Der Angeklagte, ein älterer Mann mit abgerissener Robe, stand auf einer Bühne. Man warf ihm „Gedankengier“ vor. Er habe die heiligen Lehrsätze infrage gestellt, sei dabei ertappt worden, ein verbotenes Blatt Papier zu betrachten. Die Menge lachte. Kinder saßen auf den Schultern ihrer Väter, kauten geröstete Nüsse und zeigten mit den Fingern auf ihn. „Mama, er hat es verdient“, rief ein Junge, und seine Mutter küsste ihn auf die Stirn.
Der Priester-Henker – ja, es gibt hier keinen Unterschied zwischen Beichtvater und Scharfrichter – sprach das Urteil mit einer Stimme, die Barden beneiden würden. Jedes Wort war Poesie. Jeder Satz war scharf wie eine Klinge. Er nannte das Urteil „den warmen Mantel der Gnade“. Es gab Applaus. Der Mann wurde abgeführt. Ich hörte keinen Schrei.
Später, in einer Gasse hinter der Taverne, sah ich Kinder Krieg spielen. Sie trugen Papierbanner mit Flammensiegeln, schrien „Glanzhall! Weltenbrand!“ und fesselten einen Jungen an einen Holzpfahl, während die anderen „Urteil!“ brüllten. Keiner griff ein. Eine alte Frau lachte zahnlos.
Ich versuchte mit einem Einheimischen zu sprechen – ein Buchhändler, der gerade seine Bände sortierte. Er war höflich, leise, aber sein Blick war leer. Er erzählte mir mit echtem Stolz, dass seine Tochter bald „zur Reinheit gelassen“ werde – was auch immer das heißen mag. Ich fragte vorsichtig, ob ihn das nicht beunruhige. Seine Antwort: „Wovor sollte man sich fürchten? Der Prophet kennt unseren Weg.“
In Glanzhall ist der Schrecken nicht verborgen – er ist auf Hochglanz poliert. Die Guillotinen werden mit Blumen geschmückt, die Exekutionen finden bei Musik statt. Die Bürger sind höflicher als irgendwo sonst, sogar freundlicher als bei uns in Finsterhall. Aber es ist ein Lächeln aus Granit.
Hier lebt man mit dem Tod, als sei er ein ständiger Gast. Man tanzt mit dem Schmerz, als wäre er ein alter Freund. Und was am meisten verstört: Sie sind glücklich. Nicht gezwungen. Nicht unterdrückt. Glücklich. Denn sie glauben wirklich, dass dies die beste aller Welten sei. Dass das Brennen der Welt ein Opfer ist – für Reinheit, für Erlösung, für Ordnung.
Ich werde nicht lange bleiben. Mein Magen rebelliert gegen dieses makellose Grauen. Ich fürchte, wenn ich zu lange hier bin, werde ich anfangen, es schön zu finden. Und das... das ist das Schlimmste, was ich mir vorstellen kann.
– Thamir, aus Finsterhall
-Ein Abgrund aus Marmor und Fachwerk
Verfasst von Thamir aus Finsterhall, 3. Tag nach Ankunft in Glanzhall
Ich bin angekommen. Nicht an einem Ort, sondern an einem Widerspruch.
Seitdem ich denken kann, hörte ich die Geschichten von Glanzhall. Die Händler, die aus dem Osten kamen, sprachen mit zitternder Stimme von der „ewigen Stadt aus Stein und Feuer“. Priester in Finsterhall warnten uns in ihren düsteren Predigten: "Geht nicht nach Glanzhall – dort brennt die Welt." Und doch brannten meine Gedanken seit Jahren vor Neugier. Ich wollte wissen, ob all das, was man sich flüsternd erzählte, wahr war. Und nun, da ich hier bin, kann ich sagen – nein, es war nicht wahr. Es ist schlimmer.
Ich habe ein kleines Zimmer in einer Taverne am Marktplatz gemietet. Der Wirt ist freundlich. Zu freundlich. Seine Tochter verbeugt sich bei jedem Gruß, seine Frau serviert das Brot mit gesenktem Blick. Sie reden nicht viel, aber wenn sie reden, zitieren sie Verse. Aus dem Buch des Propheten. Ohne Aufforderung. Ohne Miene. Ohne Zweifel.
Der Marktplatz selbst ist ein Fest für das Auge. Gepflastert mit hellem Stein, flankiert von pastellfarbenen Fachwerkhäusern, deren Balken in filigranen Mustern geschnitzt sind. Überall wehen Banner – rot, gold, weiß. Kinder laufen lachend zwischen den Ständen umher, Jongleure werfen ihre Fackeln, Musik erklingt von irgendwo. Es wirkt... wunderschön. Und doch liegt unter jeder Farbe, unter jedem Akkord, etwas Unbeschreibliches. Etwas, das atmet.
Heute wohnte ich einem öffentlichen Prozess bei. Ich sage „Prozess“, aber es war mehr eine Messe – ein Ritual. Der Angeklagte, ein älterer Mann mit abgerissener Robe, stand auf einer Bühne. Man warf ihm „Gedankengier“ vor. Er habe die heiligen Lehrsätze infrage gestellt, sei dabei ertappt worden, ein verbotenes Blatt Papier zu betrachten. Die Menge lachte. Kinder saßen auf den Schultern ihrer Väter, kauten geröstete Nüsse und zeigten mit den Fingern auf ihn. „Mama, er hat es verdient“, rief ein Junge, und seine Mutter küsste ihn auf die Stirn.
Der Priester-Henker – ja, es gibt hier keinen Unterschied zwischen Beichtvater und Scharfrichter – sprach das Urteil mit einer Stimme, die Barden beneiden würden. Jedes Wort war Poesie. Jeder Satz war scharf wie eine Klinge. Er nannte das Urteil „den warmen Mantel der Gnade“. Es gab Applaus. Der Mann wurde abgeführt. Ich hörte keinen Schrei.
Später, in einer Gasse hinter der Taverne, sah ich Kinder Krieg spielen. Sie trugen Papierbanner mit Flammensiegeln, schrien „Glanzhall! Weltenbrand!“ und fesselten einen Jungen an einen Holzpfahl, während die anderen „Urteil!“ brüllten. Keiner griff ein. Eine alte Frau lachte zahnlos.
Ich versuchte mit einem Einheimischen zu sprechen – ein Buchhändler, der gerade seine Bände sortierte. Er war höflich, leise, aber sein Blick war leer. Er erzählte mir mit echtem Stolz, dass seine Tochter bald „zur Reinheit gelassen“ werde – was auch immer das heißen mag. Ich fragte vorsichtig, ob ihn das nicht beunruhige. Seine Antwort: „Wovor sollte man sich fürchten? Der Prophet kennt unseren Weg.“
In Glanzhall ist der Schrecken nicht verborgen – er ist auf Hochglanz poliert. Die Guillotinen werden mit Blumen geschmückt, die Exekutionen finden bei Musik statt. Die Bürger sind höflicher als irgendwo sonst, sogar freundlicher als bei uns in Finsterhall. Aber es ist ein Lächeln aus Granit.
Hier lebt man mit dem Tod, als sei er ein ständiger Gast. Man tanzt mit dem Schmerz, als wäre er ein alter Freund. Und was am meisten verstört: Sie sind glücklich. Nicht gezwungen. Nicht unterdrückt. Glücklich. Denn sie glauben wirklich, dass dies die beste aller Welten sei. Dass das Brennen der Welt ein Opfer ist – für Reinheit, für Erlösung, für Ordnung.
Ich werde nicht lange bleiben. Mein Magen rebelliert gegen dieses makellose Grauen. Ich fürchte, wenn ich zu lange hier bin, werde ich anfangen, es schön zu finden. Und das... das ist das Schlimmste, was ich mir vorstellen kann.
– Thamir, aus Finsterhall