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Feedback jeder Art Buch: „Brüchig ganz“

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Dämmerlicht

Der Tag begann wie viele zuvor: leise, schwer. Das Licht, das durch das Fenster fiel, war herbstlich – nicht golden, sondern grau. In Levins Brust lastete ein Schmerz, der keinen Namen kannte, nur Farben: dunkles Blau, erdiges Braun, eine Ahnung von Schwarz.
Er hatte gelernt, mit der Stille zu leben. Mit dem Gefühl, dass sein Leben am Rand stattfand – nicht mitten in der Welt, sondern dort, wo die Schatten wohnen. Und doch, manchmal blitzte etwas auf. Ein Moment, ein Augenblick, so flüchtig wie Tau auf einer Fensterscheibe. Der Sternenhimmel über dem Dach seiner kleinen Wohnung. Ein Sonnenaufgang, so leuchtend, dass es fast weh tat. Das Lächeln seiner Frau, warm wie Sommerregen.
Diese Sekunden waren wie Licht in der Dunkelheit. Hoffnung, die kam und ging, als hätte sie kein Zuhause. Doch in diesen Momenten spürte Levin: Vielleicht ist das Leben nicht falsch, vielleicht ist es einfach nur anders. Rissig, ja. Schmerzhaft. Aber auch durchlässig für Schönheit, wenn man hinsah.
In einer Stunde, in der alles wieder zu schwer schien, saß er auf dem Balkon, die Welt um ihn her dämmerte. Und da war er wieder, dieser eine Gedanke, der blieb:
„Wenn ich in den Rissen meines Seins Schönheit finde… vielleicht bin ich doch ganz.“


Chronist der Sekunden

Seit jenem Abend auf dem Balkon hatte sich etwas verändert. Nicht laut, nicht grell — nur eine winzige Verschiebung im Inneren. Levin begann, seine Kamera öfter mitzunehmen. Kein hochmodernes Gerät, nur eine alte, klobige Digitalkamera, deren Akku nie ganz voll war. Doch sie war ihm genug. Denn sie hielt, was er suchte: die Sekunden, die leuchten.
Morgens wanderte er hinaus, wenn die Straßen noch leer waren und der Nebel wie eine Decke über die Welt lag. Er fotografierte das zarte Rosa am Rand der Wolken, das Schimmern einer Pfütze im ersten Sonnenstrahl. Und abends – oh, die Abende! – war er oft zu finden an stillen Orten: auf Brücken, am Fluss, im Park, wo die Schatten länger wurden und das Licht golden war, bevor es verschwand.
Sein Blick wurde geschärfter. Er sah Dinge, die andere übersahen: ein einzelnes Blatt, das sich drehte wie im Tanz, eine Katze, die wie ein Schatten durch die Dämmerung glitt, das Lächeln eines Fremden, das sich nicht erklären ließ.
Er sammelte nicht bloß Bilder. Er sammelte Beweise: Dass Schönheit existierte. Dass sie kam – auch zu denen, die sie fast vergessen hatten.
Und manchmal, wenn er die Fotos ansah, spürte er: Nicht alle Risse schmerzen. Manche lassen Licht hindurch.


Zwischen den Tagen

Die Zeit floss durch Levin wie Regen durch Risse im Beton. Man sah es nicht, aber man fühlte, dass etwas weggespült wurde. Die Stunden kamen und gingen, gleichförmig, ohne Widerstand. Morgens war keine Begrüßung, abends kein Abschied. Nur Übergänge. Schatten, die sich streckten. Gedanken, die sich einrollten wie verletzte Tiere.
Elisa war da — warm, still. Sie war das Licht, das er nicht halten konnte. Ihre Liebe berührte ihn nicht wie ein Kuss, sondern wie ein Echo: Man wusste, dass es da war, aber es verging, bevor man es greifen konnte.
„Ich liebe dich“, sagte sie manchmal. Levin hörte die Worte, sie fielen wie Schneeflocken — wunderschön, aber kalt auf seiner Haut. Nicht, weil sie falsch waren, sondern weil er sie sich nicht erlaubte. Wie sollte man etwas empfangen, wenn man innerlich verhungerte?
Er wollte glauben, dass Nähe möglich war. Dass Berührung nicht zerbricht an der Leere, sondern sie füllt, wie Wasser ein Glas, das nie voll wird, aber wenigstens glitzert im Licht.
Doch oft saß er allein auf der Fensterbank, sah hinaus in eine Welt, die sich drehte, ohne ihn zu fragen. Und da war sie: die Stille. Sie sagte nicht viel. Aber sie war ehrlich.
Elisa kam zu ihm, legte eine Hand auf seine Schulter, blieb. Es war kein Trost. Aber es war genug. Für diesen Moment.


Stilles Echo

Levin saß am Rand des Betts, die Kamera lag auf dem Tisch, unberührt. Kein Bild konnte heute festhalten, was in ihm war: ein Hohlraum, eine Stille, die nicht beruhigte.
Seine Frau, Elisa, stand in der Küche und summte ein Lied, das er nicht kannte. Es war kein fröhliches Lied, aber sie sang es sanft — wie jemand, der eine Pflanze streichelt, obwohl sie noch nicht blüht. Manchmal fragte sich Levin, was sie sah in ihm. Vielleicht nicht die Leere, sondern die Linien drum herum. Die Risse, die ihn zeichneten, nicht entstellten.
Er konnte ihre Liebe spüren — nicht wie Licht, das durch ihn ging, sondern wie Wärme, die sich an die kalten Stellen legte. Und doch war da diese Schuld: Wie kann man lieben lassen, wenn man sich selbst kaum halten kann?
Elisa sprach nie davon. Aber sie berührte ihn, wie man ein zerbrechliches Buch öffnet. Nicht aus Angst, sondern aus Achtung. Und manchmal, in diesen Momenten, fühlte Levin so etwas wie Nähe. Nicht laut, nicht ganz — aber da. Als hätte die Liebe einen Raum gefunden, zwischen ihm und sich selbst.
Es war nicht leicht. Ihre Beziehung lebte nicht von glanzvollen Tagen, sondern von stillen Gesten: Ein Tee auf dem Fensterbrett. Eine Decke, ohne Kommentar, wenn die Welt zu kalt war. Ein „Ich bleibe“, ohne Nachfrage.
Und Levin begann zu begreifen: Vielleicht muss man sich selbst nicht ganz lieben, um geliebt zu werden. Vielleicht darf man auch brüchig sein. Und vielleicht entsteht wahre Nähe genau dort — in der ehrlichen Distanz, die man zeigt, statt versteckt.


Fenstermenschen
Die Welt war ein Film hinter Glas. Levin saß oft am Fenster, den Blick hinausgerichtet wie ein Beobachter eines fremden Lebens. Die Straße war sein Theater: Hunde, die an Laternen schnüffelten, Kinder, die sich gegenseitig in die Kälte schubsten, ein Mann mit Zeitung, der wirkte, als trüge er zu viele Geschichten. Drinnen war es still. Nicht leer, aber schwer. Die Dinge hatten ihre Plätze gefunden – wie Levin, der immer da war, aber selten wirklich auftauchte. Er malte sich Geschichten aus über die Menschen, die vorbeigingen. Eine Frau mit rotem Schal – vielleicht wartete sie auf einen Brief, der nie kam. Ein Junge, der immer zu schnell rannte – als wollte er einem Gedanken entkommen. Der Fensterrand wurde zum Rand seiner Welt. Nicht als Grenze, sondern als Einladung: zum Sehen statt Leben. Und manchmal, ganz selten, begegnete sein Blick einem anderen durch das Glas – ein stilles Erkennen unter Fremden. Kein Lächeln, aber ein Echo.

Verlorene Bilder
In der hintersten Schublade lag es noch: ein Foto, vergilbt, leicht zerknittert, aber deutlich genug, um weh zu tun. Levin und Elisa, auf einem Hügel, das Licht gold, ihre Blicke jung. Er hielt es mit zwei Fingern, als sei es empfindlich gegenüber Trauer. Damals, dachte er, war das Leben ein Versprechen, keine Frage. Und heute? Heute war es ein Zustand. Das Foto war kein Fenster in die Vergangenheit – eher eine Tür, die sich nie ganz öffnete. Er erinnerte sich nicht an den Moment, aber an das Gefühl. Und das war schlimmer. Denn Erinnerungen sind wie Geister: Sie kommen ohne Einladung, bleiben wortlos, und gehen, sobald man ihnen zuhören will. Er legte das Bild zurück. Nicht aus Gleichgültigkeit, sondern aus Respekt. Manche Dinge will man nicht heilen – man will sie behalten, weil sie zeigen, dass man gefühlt hat.

Stunden, die nichts wollen
Es gab Tage, die wollten nichts von ihm. Keine Produktivität, kein Lächeln, keine Antwort. Sie hingen in der Luft wie Nebel – ohne Form, ohne Richtung. Levin lag dann auf dem Sofa und hörte das Ticken der Uhr. Nicht als Maß für Zeit, sondern als Beweis, dass sie verging. Die Minuten waren wie Besucher, die nichts mitbrachten. Und doch: Sie kamen. Und manchmal war genau das genug. Er dachte nicht viel. Die Gedanken waren müde, wie Vögel nach einem Sturm. Aber in dieser Leere war auch Freiheit. Die Freiheit, nichts zu müssen. Und vielleicht war das die größte Gnade jener Tage: Dass sie ihm die Erlaubnis gaben, einfach zu sein. Brüchig, still, aber da.
 
Hallo ThaiChiMaster,

das ist wunderbar geschrieben.
Einfühlsam beschreibst du hier Levins inneren Kampf, die Dunkelheit zu verstehen, in ihr nicht unterzugehen und Lichtblicke zu erkennen, die von außen hindurchblinzeln.
Vielleicht schafft er es ja, durch das Sammeln vieler solcher Lichtblicke, einen Teil der Dunkelheit wieder zu erhellen.
🙂

Sehr gern gelesen
LG Wilde Rose
 
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Claudis Themen
Hallo ThaiChiMaster,

wie du weißt, darfst du nur eine Kurzgeschichte pro Tag einstellen! Dies könnte aber durchaus als zusammenhängender Text durchgehen. Du müsstest das nur deutlicher machen, indem du einen passenden Titel für die Geschichte wählst. Dann können die einzelnen Überschriften als Untertitel verstanden werden. Bitte ändere also den Werktitel!

Falls es tatsächlich eine Sammlung mehrerer Geschichten sein soll, werden wir nur die erste Episode stehenlassen und die überzähligen Texte entfernen. Bitte halte dich an die Postingbegrenzung, die auch alle anderen Mitglieder einhalten müssen!

Freundliche Grüße
die Moderation
 
Moin ThaiChiMaster,

Dein Text trifft es auf den Punkt: Es sind nicht die glatten, perfekten Tage,
die uns prägen, sondern die Risse, die uns Mensch machen. Vielleicht ist
es gerade diese Unvollkommenheit, die uns für Schönheit öffnet –
selbst in den dunkelsten Momenten.

In den Augenblicken, in denen wir uns selbst nicht verstehen,
finden wir vielleicht das wahre Licht. Vielleicht ist Ganzheit nicht
das Fehlen von Rissen, sondern das, was durch sie hindurchscheint –
die Freiheit, die entsteht, wenn wir akzeptieren, dass wir unvollständig sind.


Gern gelesen!

LG. Driekes
 
  • Driekes
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