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Mittwochabend, Fußball-EM der Frauen, Viertelfinalspiel Norwegen gegen Italien


Ich weiß nicht, weshalb mich die Tatsache irgendwie unzufrieden macht. Ich habe mir das Viertelfinalspiel der Norwegerinnen gegen die Italienerinnen angeschaut, habe den Skandinavierinnen die Daumen gedrückt, sie haben verloren. Es ist nichts dabei. Ich bin kein Norweger, kein Skandinavier, ich habe keine wie auch immer geartete Beziehung zu einem oder mehreren Menschen aus Skandinavien, und andersherum habe ich auch nichts gegen Italienerinnen oder allgemeiner: Menschen des Mittelmeerraums. Trotzdem spürte ich einen winzigen Sympathievorsprung zu den Norwegerinnen. Ja, ich war vor zwei Wochen beim Eröffnungsspiel zur Fußball-EM der Frauen berührt von der Art und Weise, wie eine norwegische Sängerin ihre Nationalhymne sang. Still, innig, wie ein Volkslied, wie ein Liebeslied. Berührend. Haben wohl viele so empfunden, erfuhr ich heute Abend durch die Moderation des aktuellen Spiels. Ja, vielleicht war es einfach der Vortrag der Hymne vor dem ersten Spiel, dass ich jetzt wünschte, die Norwegerinnen mögen gewinnen. Einen anderen Grund sehe ich nicht. Ihre Spielweise ist nicht herausragend. Aber sie hatten ihre Chancen, das entscheidende Tor zu schießen. Italien war nicht unbedingt besser. Mit ihrer Hymne an diesem Abend schon, ja. Das Rausschmettern der Liedzeilen hat etwas Besonderes. Ich weiß nie, ob ich es gelassen genießen will oder mich darüber lustig machen möchte, dass man eine Nationalhymne so inbrünstig von sich gibt. Ich fremdele damit. Zurück zum Sport. Wenn man als Zuschauer beim Spiel zweier Mannschaftenn für eines der beiden Teams „mitfiebert“, tut einem dessen Niederlage mehr weh, als wenn man sich so ein Spiel völlig gelassen anschaut, ohne dem einen oder dem anderen mehr zuzuneigen. So weit, so gut. Ich musste also eine Niederlage verarbeiten, als hätte ich sie persönlich erlitten. Dabei war mein Anteil an allem denkbar gering.

Dann lag ich im Bett, konnte aber nicht einschlafen, blieb aufgewühlt. Ich suchte nach einem angenehmen, vielleicht sogar einschläfernden Gedanken, dem ich ins große Dunkel folgen konnte. Mir fiel der vergangene Samstag ein:

Gegen Mittag atmeten wir erleichtert durch, weil es den ganzen Vormittag kräftig geregnet hatte, und sich der Himmel nun zu lichten schien. Nach eins wollten wir los. Alles Nötige war schon im Auto. Als wir in den Hof traten, hatte es tatsächlich aufgehört. Die Luft war klar. Was fehlte, war die Sonne, die leider für den Rest des Tages hinter Wolken versteckt blieb. In der Kleinstadt angekommen, parkten wir das Auto in einer ruhigen Nebenstraße. Ich hievte mich schwerfällig hinaus und machte ein paar Lockerungsschritte am Stock. Frau und Tochter entfalteten den Rollstuhl. Und schon saß ich wieder. Meine Tochter schob mich. Sie machte dabei wieder die sich allmählich vertiefende Erfahrung, wie schon wenige Zentimeter Bordstein das Fahren eines sehr einfachen Rollstuhls behindern können. Vorausschauendes Fahren bekommt eine neue Bedeutung. Immer prüft der Blick: Wo ändert sich der Bodenbelag, wo könnte der Bordstein besonders gut abgesenkt sein, wo drohen auf der Fahrbahn Schienen oder irgendwelche Vertiefungen, in die der Rolli rutschen kann? Ungezählte Male zuckte ich zusammen, wenn wir einem vor uns Gehenden zu nahe kamen und ihm in die Hacken zu fahren drohten. Die mich schiebende Person kann nicht ständig auf meine Füße schauen und den Sicherheitsabstand permanent beachten. Der Blick geht auch mal nach rechts, nach links, man unterhält sich mit jemandem, man blickt in Schaufenster.

Wir kommen auf dem Marktplatz im Schatten der großen Stadtkirche an, wo sich schon eine Menge bunten Volks gesammelt hat. Unser Ziel. Ich bin, obwohl das nicht in Frage stand, sehr froh, dass ich mit Frau und Tochter hier herfahren konnte, dass sie mich mitgenommen haben. Ich hätte es sofort verstanden, wenn eine gesagt hätte „Du, weil nicht ganz klar ist, ob der Regen wirklich vorbei ist und nicht wieder anfängt, würde ich dich lieber zuhause lassen. Außerdem kann es beim CSD immer auch zu stressigen Situationen kommen.“ Ohne zu murren wäre ich da geblieben. Zuhause. Nun sind wir aber gemeinsam hier, freuen uns gemeinsam über die vielen Leute, erkennen Bekannte, Freundinnen und Freunde, Genoss*innen, sogar die Oberbürgermeisterin der Stadt. Ich werde von vielen umarmt. Es entbrennt fast ein Streit, wer mich zuerst weiterschieben darf. Es ist schön. Es ist anregend. Es ist bestärkend. Jemand sagt, dass die Atmosphäre überraschend politisch sei. Mir sind sofort die vielen Menschen der Linkspartei aufgefallen, auch ihrer Jugendorganisation. Ich sehe aber auch welche von den Grünen, von verschiedenen zivilgesellschaftlichen Gruppen, Organisationen, Initiativen gegen Rechtsextremismus und für ein buntes, demokratisches Land. Ich bin mir sicher, dass ich nicht alle vertretenen Parteien und weitere Organisationen entdeckt habe. Nach einer Weile bin ich mir aber sicher, dass zwar zum einen die unmittelbare Kleinregion sehr gut vertreten ist, auch von Dörfern der Gegend, aber darüber hinaus auch viele Menschen weitere Anreisen in Kauf genommen haben. Aus Magdeburg, aus Hamburg entdecke ich Leute, eine kleine Männergruppe in Schwarzwälder Frauentrachten fällt mir besonders auf – die werden doch nicht wirklich aus dem Schwarzwald hierhergekommen sein, ins piefigste Sachsen-Anhalt? Verliert man sie kurz aus dem Blick, findet man ihre schwarzen Hüte mit den knallroten Kugeln darauf schnell wieder. Eine kolossal witzige Erscheinung sind sie. Auch mindestens ein weiterer Rollifahrer ist außer mir im Demozug. Er, mit Sicherheit noch ein paar Jahre älter als ich, fühlt sich sichtlich gut. Soweit es ihm möglich ist, übernimmt er die wummernden Bassrhythmen mit Kopf, Armen und Händen. Er feiert und hat viel Spaß. Als ich ihn mit meiner aktuellen Schieberin überhole, lupfe ich grüßend den Hut, den ich trage. Wir schauen uns kurz an, lächeln verständnisvoll. Zwei Schwerbehinderte im Glück.

Auch Pressevertreter*innen sind natürlich im Trubel. Ich übe immer wieder im Stillen, was ich antworte, wenn mich so eine*r anspricht und fragt, warum ich hier bin. „Fast normal und gar nicht queer, solidarisch trotzdem hier.“, will ich mich erklären. Und darauf hinweisen, dass heute wieder viele Teilnehmer*innen dabei sind, die wahrscheinlich so wie ich keinen queeren Hintergrund haben, aber dabei sein wollen, weil sie schwule, nichtbinäre Freundinnen und Freunde haben, Menschen, die zu ihnen gehören, weil man sich sympathisch ist, von denen man aber weiß, dass sie für ihr Anderssein von anderen gemieden, verstoßen, beleidigt, beschimpft, diskriminiert, ja, teilweise körperlich angegriffen werden. Oder sie kennen niemanden, haben aber das Problem der Ungleichbehandlung von Menschen als solches erkannt und wollen durch ihr Dabeisein die eigene innere Haltung deutlich machen. Ein wenig erinnern mich meine Gefühlsaufwallungen an 1989, als man auch eine Weile den Eindruck auf der Straße oder in vielen Kirchen bekommen konnte, dass hier viele verschiedene Leute bereit sind, für die Freiheiten und Rechte der Anderen einzutreten, auch, wenn es wehtun sollte. Der Gedanke weckt ein ganz seltenes Glücksgefühl in mir. Dass es im organisatorischen Vorfeld zu Spannungen rund um den CSD gekommen ist, erfahre ich zum Glück im Detail erst später. Ein Wermutstropfen, der unbedingt in Zukunft vermieden werden muss. Und weil diese Aufgabe für mich viel zu groß ist und gar nicht meine, schlafe ich endlich ein.

Nicht, ohne vorher einen erschreckenden Umweg über Bilder der Erinnerung an sogenannte Schrumpfköpfe machen zu müssen. Gänzlich unerwartet, unangekündigt, sind sie da, im gleichen Moment, wie ich die Augen zuschlage. Bilder, die sich beim Museumsbesuch des ethnologischen Museums in Wittenberg vor etwa fünfzig Jahren eingebrannt haben. Schrumpfköpfe aus Südamerika. Ich erkenne Details wieder, die mir schon damals aufgefallen waren. Die dunkle Haut. Große, wulstige Lippen. Barthaare. Holzpflöcke durch Nasen, Lippen, Wangen der Getöteten. Körperschmuck. Das alles ein völkerkundliches Phänomen für mich. Phänomen, dass die Menschheitsgeschichte solche Barbareien überhaupt hervorgebracht hat, Phänomen, dass es Seefahrer und Forschungsreisende gab, die die Köpfe an Orten gesammelt haben, wo Menschen auf die Idee gekommen waren, die Köpfe getöteter Feinde durch einen sicherlich aufwendigen Prozess schrumpfen zu lassen, bis sie nur noch die Größe von Tennisbällen hatten. Dann wurden sie als Trophäen, als Zeichen der Krieger-Macht, vielleicht als Opferzeichen für archaischen Vorstellungen entsprungenen Gottheiten an Hüttenpfosten gehangen oder als Schmuck von Altären benutzt.

Ich habe diese Köpfe ein paar mal als Kind gesehen und kaum mehr als schaudernde Verwunderung darüber empfunden. Später, wenn ich als Erwachsener das Museum wieder besuchte, packte mich eher das Mitgefühl über das, wofür ich im ersten Erschrecken nur Begriffe wie barbarisch, mörderisch, grausam und ähnliches fand. Die Beschäftigung mit den kulturellen Hintergründen half natürlich, das Gesehene einzuordnen und einem Trauma entgegen zu wirken. Wie tief der Eindruck sich aber festgesetzt hatte, bewiesen mir die Bilder in jener Nacht, als ich einfach nur einschlafen wollte. Schließlich gelang es mir, die Bilder abzuschütteln. Ich wachte am nächsten Morgen ausgeschlafen auf.




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