Lieber Freiform,
jetzt schaffe ich es endlich, dir etwas ausführlicher zu schreiben. :classic_smile:
In meinem Text habe ich bewusst vermieden, das Wort Tod zu erwähnen, weil es sich aus dem Text herauslesen lässt, hoffe ich jedenfalls.
Ja, das tut es und es war genau die richtige Idee. Habe in Bezug auf Lenaus Schilflieder vor Kurzem geschrieben, dass ich es so schön feinfühlig fand, dass das Unaussprechliche unausgesprochen bleibt und man es dennoch zwischen allen Zeilen lesen kann - das ist dir hier auch gelungen, besonders durch die Konjunktive, was die Adressatin alles täte ("du würdest mich schelten, wenn du sehen könntest"; "du wärest stolz auf mich, wenn du sehen könntest"; "Du würdest dir eine spitze Bemerkung aber sicher nicht verkneifen können"; "Ich hätte dich dann liebevoll aber leicht beschämt angeschaut und erwidert"). Im Konjunktiv selbst ist viel Schmerz enthalten durch die Diskrepanz zwischen der fröhlichen Vorstellungswelt und der harten Realität, diese Interaktionen nie mehr mit dem Anderen führen zu können.
Die Tatsache, dass der Ich-Erzähler an seine tote Frau schreibt, ist an sich ein herzzerreißender Vorgang, da hier das Empfinden über den Verstand siegt (der einem sagt, dass es ins Leere gehen muss) und in gewisser Weise den Tod überwindet. Der geliebte Mensch ist nicht mehr da, aber die Gefühle für ihn dauern fort. Indem du den Leser zum Zeugen dieser intimen Nicht-Begegnung machst (denn die Briefform ist die authentischste Form unter den Prosatexten, da der Text selbst bereits Teil der Handlung ist und dem Leser ermöglicht durch das Lesen selbst am Geschehen teilzuhaben), zwingst du ihn, sich auf diese scheinbar "sinnlose" Suche nach Nähe zum Verstorbenen einzulassen und selbst die Grenzen dessen, was der Verstand im Angesicht des Schmerzes begreifen kann, zuzugeben. Es ist also ein, allein schon durch die Form, enorm wirkungsvoller Text.
Ich weiß du würdest mich schelten, wenn du sehen könntest, wie ich immer wieder deine Briefe lese und dann stundenlang in Gedanken und Träumen versunken im Sessel sitzen bleibe, während der Tag ereignislos an mir vorüberzieht.
Wundervoller Einstieg! Eine Verschachtelung etlicher Paradoxien und Spannungsverhältnisse, als die das Leben ohne den Menschen erscheint, der das Leben doch so bedeutsam machte. Da ist das nachvollziehbare Missverhältnis zwischen Wirklichkeit und Traum: Träume habe hier Vorrang vor der Realität und werden wohl durch das unbemerkte Verstreichen des Tages (der sowohl für die Zeit, als auch für das Erleben der Außenwelt steht) als realer erlebt als die Realität. Einerseits hat man als Leser den Impuls: Das sollte doch nicht so sein. Andererseits kann man es verstehen und neigt vielleicht sogar dazu, glücklich für den Ich-Erzähler zu sein, da er in der Realitätsflucht wenigstens Trost findet, in den Vorstellungen, mit dem geliebten Menschen noch immer zusammen zu sein.
Eine solche Vorstellung ist eben auch die eingangs erwähnte Szene, dass die Verstorbene mit ihm schimpfen würde, dass er sich ebensolchen Vorstellungen zu- und der Realität abwendet. Dies erzeugt einen interessanten Widerspruch durch Selbstreferentialität, sodass das Schelten zwar als redliche Besorgnis der Geliebten erscheint und einen ersten Einblick in ihre Güte erlaubt, zugleich aber auch an Ernsthaftigkeit verliert, weil sie selbst wiederum ein Produkt der bescholtenen Vorstellungswelt des Ich-Erzählers darstellt. Dabei ist ja der Vorgang des Scheltens von Seiten einer geliebten Person selbst schon ein solcher Widerspruch zwischen Ernsthaftigkeit und Freude - ein Akt, der sich aus Liebe vollzieht und doch eine Einschränkung zum Ziel hat. In diesem ersten Satz lese ich schon die ganze Bandbreite der Empfindungen heraus, die die beiden füreinander gehabt haben müssen und denen er immer noch anhängt.
Wenn ich gehe, ziehe dich nicht zurück, sondern versuche, neue Liebe im Leben zu finden.
Ein zweiter Blick in den Charakter der geliebten Verstorbenen: Wieder zeigt sich die Güte und Selbstlosigkeit in einer Aufforderung. Ja, das ist wahre Liebe, den anderen frei und glücklich wissen zu wollen, auch wenn man selbst keinen Vorteil mehr davon hat. Es ist ja nicht leicht, sich den geliebten Menschen glücklich mit einem Anderen vorzustellen, aber die Adressatin dieses Briefes überwindet solche inneren Widrigkeiten, weil ihr wirklich am Glück des Geliebten gelegen ist. Dieser wiederum kann dieses Glück nicht ergreifen, weil sie ihm in ihrer Güte und Liebe so wert ist, dass er nicht loslassen kann und wohl auch nicht will. Der Wunsch, für den Anderen da sein zu wollen, stirbt eben nicht mit dem Menschen.
Das ist jetzt schon lange her, aber irgendwie schaffe ich den Absprung nicht.
Hier hatte ich für einen Moment auch ein Bedenken, das Lichtsammlerin angesprochen hat: ob das Wort "Absprung" hier nicht vielleicht zu lapidar sein könnte. Aber als ich darüber nachdachte, verstand ich, dass das Wort sehr stimmig ist, denn es reflektiert das lockere, nahe Verhältnis der beiden. In der Liebe muss man sich nicht immer gewählt ausdrücken, um verstanden zu werden.
Ich habe schon vieles weggegeben, was mich an unsere Zeit erinnert, um nicht immer wieder auf Schritt und Tritt an dich erinnert zu werden, aber von deinen Briefen kann ich mich einfach nicht trennen. Sie sind der Hort meines Lebens! Die beweisen, dass ich nicht nur der unnahbare Knötterkopp von nebenan bin, sondern auch ein Mensch, der etwas zu geben hat, wenn ich das auch gut zu verbergen weiß.
Wow! Das geht mir sehr unter die Haut. Da steckt so viel ehrliche Selbstpreisgabe drin. Wie das Selbstbild hier eben auch vom Bild gestützt wird, das die geliebte Person gezeichnet hat! Auf diese Weise wirkt sie bis weit nach ihrem Tod hinaus auf liebevolle Weise auf ihn. Der "Hort des Lebens" ist hierfür ein wundervoll poetischer Ausdruck, der in aller Kürze alles sagt und keine Fragen mehr offen lässt.
Du würdest dir eine spitze Bemerkung aber sicher nicht verkneifen können: „ Du hättest mir früher auch gern öfter helfen dürfen!“
Klasse! Hier baut sich die Selbstwahrnehmung, die ja, wie bereits erklärt, auch mit der Fremdwahrnehmung durch die geliebte Person verflochten ist, zu einem Bild der Geliebten aus: Aufgrund der ihm bewussten Schwächen, ist er in der Lage zu verstehen, wie sie auf die Überwindung dieser Schwächen reagieren würde. Er kann ihr Leben nach dem Tod weiterspinnen, weil er sie kennt, weil Selbstwahrnehmung und gegenseitige Wahrnehmung so sehr miteinander verflochten sind, dass das Band, wie im ersten Absatz erwähnt wurde, nicht mehr getrennt werden kann. Und das ist dann auch die Conclusio des Textes aus meiner Sicht.
Insgesamt ein sehr reflektierter und äußerst gefühlvoll geschriebener Text über ein nahegehendes Thema. Danke fürs Schreiben! :classic_smile:
LG