Im Haus ist es still geworden. Zwar waren sich alle sicher, dass sie vor Aufregung nicht schlafen könnten, trotzdem begaben sie sich, der Vernunft folgend, zur Ruhe. Helene und Prisca zogen sich in das Schlafzimmer zurück und Tara folgte Carl in dessen Zimmer. Paul geht zu seiner Frau. Er versucht sich so leise wie nur irgend möglich zu verhalten, um Anna bei ihrem Studium nicht zu stören. Erlegt sich auf das Sofa und schläft, wie alle anderen im Haus, fast augenblicklich ein. Es ist eine sehr ruhige Nacht! Scheinbar traumlos schlafen alle tief und fest, bis kurz vor Sonnenaufgang das Krähen des Hahnes sie weckt. Das Erwachen ähnelt eher einem Aufschrecken und aus allen Zimmern stürmen sie in die Küche. Dort sitzt Anna am fertig gedeckten Frühstückstisch, der Tee dampft aus seiner Kanne und das Rührei mit den frischen Kräutern duftet verführerisch, daneben steht ein großer Krug mit Milch. „Einen guten Morgen wünsche ich euch allen“, sagt Anna mit einem Lächeln im Gesicht, dem sich keiner entziehen kann. Freundlich, und doch etwas verwirrt, bekommt sie von jedem einen Morgengruß zurück. „Kommt, setzt euch, die Brötchen sind auch gerade fertig“, sagt sie und holt das Blech aus dem Backofen. „Jetzt wird erst einmal ordentlich gefrühstückt, dann haben wir schon halb gewonnen!“ Sie strahlt so eine Zuversicht aus, dass den anderen nichts weiter übrigbleibt, als ihrer Aufforderung zu folgen, und schon sitzen alle am Tisch und lassen es sich schmecken.
Eine halbe Stunde später spannen Tara und Carl die Pferde vor den Wagen und Paul verstaut den Proviant und alles was sie noch zusammengepackt haben. Helene und Prisca versorgen währenddessen die Tiere, dann geht es los in Richtung Gebirge! Nach guten drei Stunden erreichen sie die Stelle, von wo aus sie nur noch zu Fuß weiterkommen. Dort steht auch das Fuhrwerk von Ron und Max. Die Pferde der Brüder kommen sofort auf Prisca zugelaufen und begrüßen sie mit einem irgendwie erleichtert klingenden Schnauben. Jetzt werden auch ihre Pferde ausgespannt, diese machen sich sofort über das frische, unberührte Grün her. Paul und Carl nehmen die beiden großen Rucksäcke, das Seil und die Spitzhacke. Die Frauen teilen die Decken und Lampen unter sich auf. Dann sagt Helene: „Ich bin dafür, dass Prisca vorgeht. Sie kennt den Weg zu den Salzhöhlen am besten. Was meint ihr?“ Alle nicken zustimmend und los geht’s! Schweigend setzen sie sich im Gänsemarsch in Bewegung.
Am anderen Ende des Tals schickt die Sonne ihre wärmenden Strahlen über den Rand des Gebirges. Sie weckt wie jeden Morgen Mensch und Tier, doch heute scheint das niemanden zu interessieren! Selbst die sonst so sing-freudigen Vögel lassen nur hier und da mal ein Zwitschern hören. Eine unheimliche Stille liegt über dem Tal.
Einer der ersten Sonnenstrahlen erreicht die Bergkristallhöhle und tastet sich langsam hinein. Auch hier ist es ganz still. Als es in der Höhle immer heller wird, beginnt sich hinten in der Ecke etwas zu regen – Ödun erwacht. Verschlafen schlurft er in das Sonnenlicht, breitet die Arme aus und gähnt lauthals dem neuen Tag entgegen. Dann ruft er: „He, Lakai, wo bleibt mein Frühstück!“ Keine Antwort! Verwundert blickt er sich um. Da fällt es ihm plötzlich wieder ein. Er hat ihn ja ins Tal geschickt. Wehe, der findet nicht heraus, was es mit diesem glotzenden Weib auf sich hat. „So, und was esse ich jetzt?“, fragt Ödun laut in das Dunkel der Höhle. Langsam setzt er sich in Bewegung, um in ihre Vorratsnische zu schauen. ‚Die war schon mal besser gefüllt, der alte Lakai lässt es ganz schön schleifen in letzter Zeit’, denkt Ödun und nimmt sich das Einzige, was noch da ist, ein Stück Rosinenbrot. „Das frischeste ist das aber auch nicht mehr“, murrt er vor sich hin, greift nach dem Krug, um sich Wasser zu holen. Als er sich ein paar Schritte von der Höhle entfernt hat, fällt ihm ein, dass die Quelle ja unter dem kleinen Blau eingesperrt ist. „Das kann doch nicht wahr sein“, schimpft er beim Umkehren vor sich hin. „Der alte Narr hat vorher kein Wasser für mich abgefüllt, wie kann man nur so blöd sein!“ Noch weitere wüste Beschimpfungen ausstoßend kehrt er in das Halbdunkel der Höhle zurück. Dort bleibt er, auf dem alten Brot vor sich hin kauend, vor dem großen Bergkristall stehen. „Zeige mir meinen unfähigen Diener“, doch nichts passiert! „Der muss doch schon längst im Tal sein! Selbst eine Schnecke hätte das in dieser Zeit geschafft! Wo steckt er? Zeig ihn mir!“ Ödun wurde immer wütender, er stampfte mit den Füßen und gestikulierte mit den Armen, nichts half. Im Bergkristall ist nur der leere Marktplatz zu sehen. In seiner Raserei entgleitet ihm auch noch das letzte Stückchen Rosinenbrot, rollt aus der Höhle, prallt von einem Felsen ab und stürzt den Abhang hinunter. „Na der Tag fängt ja gut an“, flucht Ödun vor sich hin. Dann brüllt er: „Das kann nur noch besser werden!“
Der Weg zu den Salzhöhlen ist schmal, aber ansonsten nicht schwer zu gehen – keine größeren Steigungen, keine Geröllfelder. Er schlängelt sich einfach nur sanft bergauf. Am Anfang wachsen hier noch Gräser, kleine Büsche und ein paar Blumen. Nun sind nur noch ab und an Flechten und Moos zu finden, der Rest ist kahler Fels. Schweigend marschieren alle hinter Prisca her, die ein flottes Tempo vorgibt. Ein Jeder in seine Gedanken versunken. Aber dann hält es Tara nicht mehr aus, sie muss Anna jetzt einfach fragen! Die Anderen wollen sicher auch wissen, was sie über Nacht noch so herausgefunden hat. Adele hat ihr das wertvolle Buch bestimmt nicht umsonst mitgegeben, wo sie doch immer so übervorsichtig mit ihren Schätzen ist. Nein, Adele hat sich etwas dabei gedacht, das tut sie immer! „Anna“, sagt Tara betont ruhig. Keiner soll merken, wie aufgeregt sie ist. „Sag mal, hast du heute Nacht überhaupt geschlafen?“ Anna läuft gleich hinter Prisca, deshalb kann sie die Blicke nicht sehen, die neugierig und höchst aufmerksam jetzt auf sie gerichtet sind. Alle wollen wissen, was sie heute Nacht in dem Buch gelesen hat, aber keiner traut sich zu fragen. „Nein“, lautet ihre Antwort und die ist kurz, viel zu kurz, findet Tara. Sie kann das amüsante Lächeln auf Annas Gesicht nicht sehen. Da platzt es aus Tara heraus und sprudelt und sprudelt wie vorgestern noch die Quelle. „Na, was hast du denn in der Nacht noch herausgefunden? Kann Adeles Buch uns helfen? Gibt es eine geheime Waffe, die den Sohn Zauberers für immer vernichtet? Oder gibt es in dem Buch einen Zauberspruch? Dann hätten wir es doch mitnehmen müssen! …“ Prisca bleibt abrupt stehen, dreht sich um und bedeutet den anderen, still zu sein. Nun erst bemerken sie, dass sie schon kurz vor dem Eingang zu den Salzhöhlen sind. Aber, was ist das für ein Geräusch? Ganz langsam und leise schleichen sie weiter, immer dem Geräusch folgend. Sie betreten vorsichtig die Höhle. Prisca weiß, gleich hinter dem nächsten Felsvorsprung ist der Lagerplatz ihrer Söhne, da kommen auch die unheimlichen Töne her. Paul schleicht als Erster um den Felsen. Dann dreht er sich um und zeigt den Anderen an, dass sie ihm folgen sollen, aber leise.
Langsam wird der alte Lakai des Zauberers wach. Er räkelt sich auf der Decke – war das ein Festmahl gestern Abend! Er schlägt die Augen auf und macht sie gleich wieder zu. ‚Ich träume wohl noch’, denkt er und reckt sich nochmals. Doch als er die Augen wieder öffnet, stehen diese sechs Menschen immer noch um ihn herum und starren ihn an. Da, diese eine junge Frau, ist das nicht das Gesicht aus dem Bergkristall? Carl bricht das Schweigen: „Wer bist du?“ Die Gedanken des Lakaien laufen wild durcheinander – er kann nicht sagen, wer er ist, das ist ihm klar. Ihm muss jetzt schnell etwas einfallen, ganz schnell, und es muss plausibel klingen, wirklich glaubhaft! Aber was? „Ich bin auf einer Pilgerreise“, beginnt er seine Geschichte. „Zu dem heiligen Hain der Göttin Aeracura. Da sie die Hüterin des Übergangs zwischen dem Erdenleben und dem Leben nach dem Tode ist, wollte ich bei ihr für meine kürzlich verstorbene Frau um Beistand bitten.“ Na, da ist ihm doch was Tolles eingefallen, aber so, wie diese einfältigen Menschen schauen, ist es wohl nicht ganz angekommen! Alle schauen ihn erstaunt an, denn von der Göttin Aeracura hatten sie noch nie etwas gehört. Alle, außer Helene! Sie stammte nicht aus diesem Tal. Sie war als junge Frau mit einer Komödiantentruppe anlässlich der Hochzeit des Königs in das Tal gekommen. Sie hatte sich in den Bauernburschen Gunther verliebt und ist geblieben, aber das ist eine andere Geschichte. Wichtig dagegen ist, dass sie genau aus der Gegend kommt, wo sich der heilige Hain befindet, und das ist im Westen. Da dieses Tal aber nur einen Zugang hat, ist der alte Mann erstens in Richtung Osten unterwegs und zweitens hätte er das Tal überhaupt nicht betreten müssen, der Pilgerweg führt eindeutig am Tal vorbei. „Von dieser Göttin habe ich noch nie etwas gehört“, sagt Helene. „Kennt einer von euch diesen Namen“, fragt sie in die Runde? Alle schütteln den Kopf. Der Lakai wiegt sich in Sicherheit – na bitte, da ist ihm doch genau das Richtige eingefallen. Nun kann er ihnen das Blaue vom Himmel herunterlügen. Welch ein Vergleich! Das Blaue! Bei diesem Gedanken huscht dem Lakaien ein Grinsen über das Gesicht. „Darf ich euch zum Frühstück einladen?“ Während er diese Frage stellt, setzt er sich auf und zeigt auf den Rest der Vorräte von Ron und Max. Bevor Prisca ihrer Angst, oder ist es mittlerweile Wut, Luft machen kann, legt Helene ihr scheinbar beiläufig die Hand auf den Oberarm und drückt kurz, aber kräftig zu. Vor Schreck sagt Prisca zum Glück nichts. „Du hast aber reichlich Proviant dabei“, sagt Helene betont freundlich, „das hat ein ordentliches Gewicht!“ „Es ist ja auch ein langer Weg, da habe ich gut vorsorgen wollen“, antwortet der Lakai, der sich schon auf der Zielgeraden wähnt. Denn nun muss er nicht mehr ins Tal hinabsteigen, dieses ‚Gesicht’ aus dem Bergkristall ist zu ihm gekommen! Endlich kann er mal wieder ein paar Pluspunkte bei seinem Herrn und Meister sammeln! Da ruft Helene plötzlich: „Paul! Carl! Haltet ihn fest, ganz fest! Anna! Gib mir das Seil! Er ist ein Lügner! Tara! Halte seine Hände auf dem Rücken zusammen! Gut so!“ Ehe der Lakai überhaupt reagieren kann, liegt er gut verschnürt auf der Decke. „Du willst uns wohl für dumm verkaufen! Ich weis genau, wo der heilige Hain ist und du bist in der entgegengesetzten Richtung unterwegs! Also, wer bist du? Was willst du hier? Wo sind die Jungs, die hier Salz holen wollten?“ Carl sieht seine Mutter mit großen Augen an. So wütend, aber auch energisch und bestimmt hatte er sie noch nie gesehen! Prisca kniet sich neben den Lakaien, ergreift seine Schultern, schüttelt ihn kräftig und schreit: „Wo sind meine Söhne?“ Sie schüttelt und schreit immer weiter, bis Paul sie von ihm löst und beiseite nimmt. Tränen strömen über ihr Gesicht und sie zittert am ganzen Körper. Da tritt Tara einen Schritt vor: „Wir wollen Antworten, na los! Oder müssen wir sie aus dir heraus prügeln?“ Um ihren Worten Nachdruck zu verleihen, holt sie mit ihrem Fuß aus und deutet einen Tritt an. Der Lakai fängt an zu wimmern: „Schon gut, schon gut! Ich sage ja alles!“ Er holt tief Luft. „So viel Wert ist mir der Zauberer nun auch nicht, dass ich für ihn Schläge einstecke!“ Dann beginnt er zu erzählen, vom alten Zauberer, von der Geburt des jungen Zauberers, von den anderen Lakaien, vom Leben in der Bergkristallhöhle… „Stopp, stopp, stopp!“, ruft Paul. „Wir hatten alle Geschichtsunterricht in der Schule.“ „Und wir waren aufmerksame Schüler“, ergänzt Tara. Diese Bemerkung entlockt den Anderen ein Lächeln – Tara, der Zappelphilipp! Der Lakai nickt und murmelt vor sich hin: „Adele, die Gute! Hütet sie immer noch das alte Wissen?“ „Ja, das tut sie“, antwortet Anna, „und wenn sie es eines Tages nicht mehr kann, werde ich die Bewahrung und Deutung übernehmen!“ Dann zieht sie ruckartig das Amulett aus ihrer Bluse, es ist wieder ganz heiß! „Das Amulett der Ewigen Mawu“, der Lakai kann seine Augen nicht davon abwenden. Prinzessin Tara fragt voller Neugier: „Du kennst es? Hast du es schon einmal gesehen? Wann und Wo? Bist du auch der Ewigen Mawu begegnet?“ Der Lakai blickt nun langsam an Anna hinauf, bis sein Blick in ihren Augen ruht: „Ich kenne nur eine Zeichnung von diesem Amulett. Es ist im Großen Buch der Zaubersprüche abgebildet und soll die große Macht von Mawu auf ihre Tochter übertragen. Wie genau das funktioniert, weiß ich auch nicht, aber ich weiß noch dies – der in der Mitte eingearbeitete Kristall ist ein Splitter von dem großen Bergkristall aus der Höhle des Zauberers.“
Eine halbe Stunde später spannen Tara und Carl die Pferde vor den Wagen und Paul verstaut den Proviant und alles was sie noch zusammengepackt haben. Helene und Prisca versorgen währenddessen die Tiere, dann geht es los in Richtung Gebirge! Nach guten drei Stunden erreichen sie die Stelle, von wo aus sie nur noch zu Fuß weiterkommen. Dort steht auch das Fuhrwerk von Ron und Max. Die Pferde der Brüder kommen sofort auf Prisca zugelaufen und begrüßen sie mit einem irgendwie erleichtert klingenden Schnauben. Jetzt werden auch ihre Pferde ausgespannt, diese machen sich sofort über das frische, unberührte Grün her. Paul und Carl nehmen die beiden großen Rucksäcke, das Seil und die Spitzhacke. Die Frauen teilen die Decken und Lampen unter sich auf. Dann sagt Helene: „Ich bin dafür, dass Prisca vorgeht. Sie kennt den Weg zu den Salzhöhlen am besten. Was meint ihr?“ Alle nicken zustimmend und los geht’s! Schweigend setzen sie sich im Gänsemarsch in Bewegung.
Am anderen Ende des Tals schickt die Sonne ihre wärmenden Strahlen über den Rand des Gebirges. Sie weckt wie jeden Morgen Mensch und Tier, doch heute scheint das niemanden zu interessieren! Selbst die sonst so sing-freudigen Vögel lassen nur hier und da mal ein Zwitschern hören. Eine unheimliche Stille liegt über dem Tal.
Einer der ersten Sonnenstrahlen erreicht die Bergkristallhöhle und tastet sich langsam hinein. Auch hier ist es ganz still. Als es in der Höhle immer heller wird, beginnt sich hinten in der Ecke etwas zu regen – Ödun erwacht. Verschlafen schlurft er in das Sonnenlicht, breitet die Arme aus und gähnt lauthals dem neuen Tag entgegen. Dann ruft er: „He, Lakai, wo bleibt mein Frühstück!“ Keine Antwort! Verwundert blickt er sich um. Da fällt es ihm plötzlich wieder ein. Er hat ihn ja ins Tal geschickt. Wehe, der findet nicht heraus, was es mit diesem glotzenden Weib auf sich hat. „So, und was esse ich jetzt?“, fragt Ödun laut in das Dunkel der Höhle. Langsam setzt er sich in Bewegung, um in ihre Vorratsnische zu schauen. ‚Die war schon mal besser gefüllt, der alte Lakai lässt es ganz schön schleifen in letzter Zeit’, denkt Ödun und nimmt sich das Einzige, was noch da ist, ein Stück Rosinenbrot. „Das frischeste ist das aber auch nicht mehr“, murrt er vor sich hin, greift nach dem Krug, um sich Wasser zu holen. Als er sich ein paar Schritte von der Höhle entfernt hat, fällt ihm ein, dass die Quelle ja unter dem kleinen Blau eingesperrt ist. „Das kann doch nicht wahr sein“, schimpft er beim Umkehren vor sich hin. „Der alte Narr hat vorher kein Wasser für mich abgefüllt, wie kann man nur so blöd sein!“ Noch weitere wüste Beschimpfungen ausstoßend kehrt er in das Halbdunkel der Höhle zurück. Dort bleibt er, auf dem alten Brot vor sich hin kauend, vor dem großen Bergkristall stehen. „Zeige mir meinen unfähigen Diener“, doch nichts passiert! „Der muss doch schon längst im Tal sein! Selbst eine Schnecke hätte das in dieser Zeit geschafft! Wo steckt er? Zeig ihn mir!“ Ödun wurde immer wütender, er stampfte mit den Füßen und gestikulierte mit den Armen, nichts half. Im Bergkristall ist nur der leere Marktplatz zu sehen. In seiner Raserei entgleitet ihm auch noch das letzte Stückchen Rosinenbrot, rollt aus der Höhle, prallt von einem Felsen ab und stürzt den Abhang hinunter. „Na der Tag fängt ja gut an“, flucht Ödun vor sich hin. Dann brüllt er: „Das kann nur noch besser werden!“
Der Weg zu den Salzhöhlen ist schmal, aber ansonsten nicht schwer zu gehen – keine größeren Steigungen, keine Geröllfelder. Er schlängelt sich einfach nur sanft bergauf. Am Anfang wachsen hier noch Gräser, kleine Büsche und ein paar Blumen. Nun sind nur noch ab und an Flechten und Moos zu finden, der Rest ist kahler Fels. Schweigend marschieren alle hinter Prisca her, die ein flottes Tempo vorgibt. Ein Jeder in seine Gedanken versunken. Aber dann hält es Tara nicht mehr aus, sie muss Anna jetzt einfach fragen! Die Anderen wollen sicher auch wissen, was sie über Nacht noch so herausgefunden hat. Adele hat ihr das wertvolle Buch bestimmt nicht umsonst mitgegeben, wo sie doch immer so übervorsichtig mit ihren Schätzen ist. Nein, Adele hat sich etwas dabei gedacht, das tut sie immer! „Anna“, sagt Tara betont ruhig. Keiner soll merken, wie aufgeregt sie ist. „Sag mal, hast du heute Nacht überhaupt geschlafen?“ Anna läuft gleich hinter Prisca, deshalb kann sie die Blicke nicht sehen, die neugierig und höchst aufmerksam jetzt auf sie gerichtet sind. Alle wollen wissen, was sie heute Nacht in dem Buch gelesen hat, aber keiner traut sich zu fragen. „Nein“, lautet ihre Antwort und die ist kurz, viel zu kurz, findet Tara. Sie kann das amüsante Lächeln auf Annas Gesicht nicht sehen. Da platzt es aus Tara heraus und sprudelt und sprudelt wie vorgestern noch die Quelle. „Na, was hast du denn in der Nacht noch herausgefunden? Kann Adeles Buch uns helfen? Gibt es eine geheime Waffe, die den Sohn Zauberers für immer vernichtet? Oder gibt es in dem Buch einen Zauberspruch? Dann hätten wir es doch mitnehmen müssen! …“ Prisca bleibt abrupt stehen, dreht sich um und bedeutet den anderen, still zu sein. Nun erst bemerken sie, dass sie schon kurz vor dem Eingang zu den Salzhöhlen sind. Aber, was ist das für ein Geräusch? Ganz langsam und leise schleichen sie weiter, immer dem Geräusch folgend. Sie betreten vorsichtig die Höhle. Prisca weiß, gleich hinter dem nächsten Felsvorsprung ist der Lagerplatz ihrer Söhne, da kommen auch die unheimlichen Töne her. Paul schleicht als Erster um den Felsen. Dann dreht er sich um und zeigt den Anderen an, dass sie ihm folgen sollen, aber leise.
Langsam wird der alte Lakai des Zauberers wach. Er räkelt sich auf der Decke – war das ein Festmahl gestern Abend! Er schlägt die Augen auf und macht sie gleich wieder zu. ‚Ich träume wohl noch’, denkt er und reckt sich nochmals. Doch als er die Augen wieder öffnet, stehen diese sechs Menschen immer noch um ihn herum und starren ihn an. Da, diese eine junge Frau, ist das nicht das Gesicht aus dem Bergkristall? Carl bricht das Schweigen: „Wer bist du?“ Die Gedanken des Lakaien laufen wild durcheinander – er kann nicht sagen, wer er ist, das ist ihm klar. Ihm muss jetzt schnell etwas einfallen, ganz schnell, und es muss plausibel klingen, wirklich glaubhaft! Aber was? „Ich bin auf einer Pilgerreise“, beginnt er seine Geschichte. „Zu dem heiligen Hain der Göttin Aeracura. Da sie die Hüterin des Übergangs zwischen dem Erdenleben und dem Leben nach dem Tode ist, wollte ich bei ihr für meine kürzlich verstorbene Frau um Beistand bitten.“ Na, da ist ihm doch was Tolles eingefallen, aber so, wie diese einfältigen Menschen schauen, ist es wohl nicht ganz angekommen! Alle schauen ihn erstaunt an, denn von der Göttin Aeracura hatten sie noch nie etwas gehört. Alle, außer Helene! Sie stammte nicht aus diesem Tal. Sie war als junge Frau mit einer Komödiantentruppe anlässlich der Hochzeit des Königs in das Tal gekommen. Sie hatte sich in den Bauernburschen Gunther verliebt und ist geblieben, aber das ist eine andere Geschichte. Wichtig dagegen ist, dass sie genau aus der Gegend kommt, wo sich der heilige Hain befindet, und das ist im Westen. Da dieses Tal aber nur einen Zugang hat, ist der alte Mann erstens in Richtung Osten unterwegs und zweitens hätte er das Tal überhaupt nicht betreten müssen, der Pilgerweg führt eindeutig am Tal vorbei. „Von dieser Göttin habe ich noch nie etwas gehört“, sagt Helene. „Kennt einer von euch diesen Namen“, fragt sie in die Runde? Alle schütteln den Kopf. Der Lakai wiegt sich in Sicherheit – na bitte, da ist ihm doch genau das Richtige eingefallen. Nun kann er ihnen das Blaue vom Himmel herunterlügen. Welch ein Vergleich! Das Blaue! Bei diesem Gedanken huscht dem Lakaien ein Grinsen über das Gesicht. „Darf ich euch zum Frühstück einladen?“ Während er diese Frage stellt, setzt er sich auf und zeigt auf den Rest der Vorräte von Ron und Max. Bevor Prisca ihrer Angst, oder ist es mittlerweile Wut, Luft machen kann, legt Helene ihr scheinbar beiläufig die Hand auf den Oberarm und drückt kurz, aber kräftig zu. Vor Schreck sagt Prisca zum Glück nichts. „Du hast aber reichlich Proviant dabei“, sagt Helene betont freundlich, „das hat ein ordentliches Gewicht!“ „Es ist ja auch ein langer Weg, da habe ich gut vorsorgen wollen“, antwortet der Lakai, der sich schon auf der Zielgeraden wähnt. Denn nun muss er nicht mehr ins Tal hinabsteigen, dieses ‚Gesicht’ aus dem Bergkristall ist zu ihm gekommen! Endlich kann er mal wieder ein paar Pluspunkte bei seinem Herrn und Meister sammeln! Da ruft Helene plötzlich: „Paul! Carl! Haltet ihn fest, ganz fest! Anna! Gib mir das Seil! Er ist ein Lügner! Tara! Halte seine Hände auf dem Rücken zusammen! Gut so!“ Ehe der Lakai überhaupt reagieren kann, liegt er gut verschnürt auf der Decke. „Du willst uns wohl für dumm verkaufen! Ich weis genau, wo der heilige Hain ist und du bist in der entgegengesetzten Richtung unterwegs! Also, wer bist du? Was willst du hier? Wo sind die Jungs, die hier Salz holen wollten?“ Carl sieht seine Mutter mit großen Augen an. So wütend, aber auch energisch und bestimmt hatte er sie noch nie gesehen! Prisca kniet sich neben den Lakaien, ergreift seine Schultern, schüttelt ihn kräftig und schreit: „Wo sind meine Söhne?“ Sie schüttelt und schreit immer weiter, bis Paul sie von ihm löst und beiseite nimmt. Tränen strömen über ihr Gesicht und sie zittert am ganzen Körper. Da tritt Tara einen Schritt vor: „Wir wollen Antworten, na los! Oder müssen wir sie aus dir heraus prügeln?“ Um ihren Worten Nachdruck zu verleihen, holt sie mit ihrem Fuß aus und deutet einen Tritt an. Der Lakai fängt an zu wimmern: „Schon gut, schon gut! Ich sage ja alles!“ Er holt tief Luft. „So viel Wert ist mir der Zauberer nun auch nicht, dass ich für ihn Schläge einstecke!“ Dann beginnt er zu erzählen, vom alten Zauberer, von der Geburt des jungen Zauberers, von den anderen Lakaien, vom Leben in der Bergkristallhöhle… „Stopp, stopp, stopp!“, ruft Paul. „Wir hatten alle Geschichtsunterricht in der Schule.“ „Und wir waren aufmerksame Schüler“, ergänzt Tara. Diese Bemerkung entlockt den Anderen ein Lächeln – Tara, der Zappelphilipp! Der Lakai nickt und murmelt vor sich hin: „Adele, die Gute! Hütet sie immer noch das alte Wissen?“ „Ja, das tut sie“, antwortet Anna, „und wenn sie es eines Tages nicht mehr kann, werde ich die Bewahrung und Deutung übernehmen!“ Dann zieht sie ruckartig das Amulett aus ihrer Bluse, es ist wieder ganz heiß! „Das Amulett der Ewigen Mawu“, der Lakai kann seine Augen nicht davon abwenden. Prinzessin Tara fragt voller Neugier: „Du kennst es? Hast du es schon einmal gesehen? Wann und Wo? Bist du auch der Ewigen Mawu begegnet?“ Der Lakai blickt nun langsam an Anna hinauf, bis sein Blick in ihren Augen ruht: „Ich kenne nur eine Zeichnung von diesem Amulett. Es ist im Großen Buch der Zaubersprüche abgebildet und soll die große Macht von Mawu auf ihre Tochter übertragen. Wie genau das funktioniert, weiß ich auch nicht, aber ich weiß noch dies – der in der Mitte eingearbeitete Kristall ist ein Splitter von dem großen Bergkristall aus der Höhle des Zauberers.“