Lieber Dio,
ich bin ein bisschen spät dran, aber besser spät als nie, so heißt es doch. Tatsächlich war ich in meiner Jugend und auch noch als junge Erwachsene eine ganze Zeitlang fasziniert vom Vampir-Mythos und las in dieser Zeit viele Romane und auch Heftromane. Und sah eine ganze Anzahl von Filmen.
Das ließ dann immer mehr nach, aber im Rückblick betrachtet denke ich, dass ein guter Teil der 'Faszination' sich gerade beim Vampir-Mythos gar nicht unbedingt alleine auf die 'Faszination des Bösen' bezieht. Sondern auf eine, wie ich finde, stark vorhandene, 'erotische Komponente'. Irgendwie ist der männliche Vampir immer auch eine Art gefährlicher, vielleicht sogar tödlicher 'Liebhaber'.
Interessant, dass es eine Verbindung zum Werwolf-Mythos gibt - wie ich finde. Beim Werwolf geht es ja auch um diesen Aspekt, allerdings 'direkter'. Die Gefahr und die unter Umständen tödliche Bedrohung ist offensichtlicher. Auch in Märchen fand der Werwolf, also der Mann als Gefahr, seinen 'Platz' - siehe die Märchenfigur des 'bösen Wolfs'. Wie z. B. bei 'Der Wolf und die sieben Geißlein' oder 'Rotkäppchen'. Bei Rotkäppchen ist es, meiner Meinung nach, sogar am deutlichsten. Vom 'rechten Weg abkommen' und vom Wolf gefressen/verschlungen/vereinnahmt werden ... Sich als junge Frau / als junges Mädchen auf einen Mann einlassen - und das 'Leben verlieren', womit allerdings, denke ich, mehr als nur der direkte, physische Tod gemeint ist. Zu der Zeit, als diese Märchen entstanden, ging es wohl eher um die Warnung, dass die Folge der Ausschluss aus der Gemeinschaft/Gesellschaft und, mit dem 'moralischen Fall' verbunden, ein elendes Dasein daraus resultieren würde. Ein Dasein, das dann in den allermeisten Fällen für diese Frauen auch - früher oder später - tödlich enden konnte. Rotkäppchen hatte eine Liaison, die von der Großmutter heimlich unterstützt wurde (symbolisch: die Hütte im Wald, verborgener Treffpunkt). Der Wolf - der heimliche Liebhaber. Der Jäger - der Retter, sehr wahrscheinlich, so denke ich, ein Mann, der bereit war, Rotkäppchen trotzdem zu heiraten.
Die Verbindung zwischen Vampir und Werwolf sehe ich darin, dass der Vampir sich auch in einen Wolf verwandeln kann. Der elegante Verführer - ein Wolf im Menschenpelz, sozusagen. Auch Graf Dracula eröffnet da noch einen weiteren Aspekt, bezüglich des Vampirs. Ich denke, darin liegt auch eine Warnung verborgen, die sich auf 'junge Frauen aus niedrigeren Gesellschaftsschichten' bezog, die sich mit einem Adeligen einließen. Das gab es schließlich in der Realität nur zu oft - und die Folgen für diese jungen Frauen waren immer übel. Wenn sie schwanger wurden - und der Adelige alles andere als bereit war, sie zu heiraten ... das gab es nämlich so gut wie nie.
Persönlich glaube ich, dass das 'untote' Dasein des Vampirs nicht mit Zombies verglichen werden kann. Ursprünglich bildete sich der Vampir-Mythos zwar aus dem 'Nachzehrer-Glauben' heraus, aber nahm dann doch zunehmend einen 'anderen Weg'. Daher finde ich, dass beim Vampir die 'untote Komponente' mehr und mehr auch in eine andere Richtung ging - und sogar noch geht, denn (unabhängig von der Qualität, das möchte ich festhalten!) wurden Romane und Filme immer 'romantischer'. Siehe z. B. Twilight oder 'Vampire Diaries', Beispiele für die immer weiter fortschreitende Veränderung in Hinsicht auf die Gestalt des Vampirs. Die erotische Komponente wurde und wird immer 'ausgeprägter'. Auch die Komponente der Liebe kam ins Spiel und auch diese nahm und nimmt zu. Das liegt mit Sicherheit daran, dass sich die Gesellschaft immer weiter veränderte und mit ihr die moralischen Vorstellungen - und somit auch die Ansichten über die darin liegenden 'Gefahren'. Tatsächlich ist zu beobachten, dass der Vampir immer 'ungefährlicher' wird. Deutlich wird diese Veränderung auch dadurch, dass die Gestalt des weiblichen Vampirs, anfangs in der bloßen 'Nebenrolle', mehr und begann, auch die 'Hauptrolle' zu spielen.
Manchmal lockt die Gefahr (warum Bungeespringen, Extremklettern, Fallschirmspringen etc. als Hobbies?), lockt der Nervenkitzel, das Risiko. Gefahr sorgt dafür, dass sich Menschen 'besonders lebendig fühlen' - wenn sie sie überstehen, sie überleben. Und auch der Tod kann eine eigentümliche, morbide Faszination ausüben. Ich stelle mal etwas in den Raum, eine durchaus bewusst von mir so gestellte Frage: Warum neigen gar nicht wenige Menschen dazu, wenn sie älter werden, immer öfter - Friedhöfe zu besuchen? Denn keineswegs besuchen sie nur die Gräber von Angehörigen - sondern gehen auf Friedhöfen sogar spazieren, lesen Grabsteininschriften und halten sich längere Zeit dort auf, ohne dass es einen direkten Grund dafür gibt. Ich vermute, dass es darum geht, sich lebendig zu fühlen. Dass es für irgendetwas, tief in unserem Unbewussten, beruhigend ist, feststellen zu können: Die in den Gräbern, die sind tot. Ich bin noch am Leben!
Ich halte Stephen King für einen wirklich guten Schriftsteller. Aber, egal wie gut er auch wäre - wenn die Menschen nicht fasziniert vom Bösen wären, nicht von der Gefahr angezogen würden und den Tod nicht herausfordern würden, da sie ihn fürchten, dann wäre sein Erfolg ganz einfach ausgeblieben, dann hätten sich seine Bücher nicht dermaßen gut verkauft.
LG,
Anonyma