Erikas Erblühen
Als Erika aufwacht, ist alles um sie herum grellweiß: die Decke, die Wände, das Neonlicht, ja, selbst die Lilien auf dem Tisch neben ihr, wie ausgeblichen. Daneben steht ein Kreuz, silbrig-glänzend. Es ist totenstill in diesem Zimmer. Da ist bloß dieses schrille, durchdringende Piepsen.
Ihr fallen die Augen wieder zu, als hingen Bleigewichte an ihren Lidern. Und sie träumt. Es ist einer dieser Träume, in denen sich alles so echt anfühlt. Im Traum steht sie auf dem Schulhof. Gerade hat die Schulglocke geläutet. Da sieht sie ihre erste große Liebe, Gustav: ein sportlicher, 13-jähriger Junge aus ihrer Schule, zwei Klassen über ihr. Sie bewundert ihn, schaut heimlich zu ihm hinüber. Es darf nur keiner ihre scheuen Blicke bemerken. Er ist so mutig! Neulich kletterte er ohne Hilfe auf einen Baum und holte von dort einen Fußball herunter. Er soll sogar schon einmal ein Mädchen geküsst haben. Oh, wenn sie ihn doch auch küssen könnte.
Erika erwacht wieder. Sie versucht, Arme und Beine zu bewegen. Doch die reagieren nicht. Nur den Kopf kann sie leicht heben. Sie blickt an sich herab. Es scheint alles noch dran zu sein. Ihre Arme sind da, die Beine auch, wenn auch eingegipst. Was ist nur passiert? Das linke Bein baumelt hochgebunden über dem Bett wie ein abgestorbener Ast. Ihr schönes Sommerkleid wurde ihr ausgezogen. Dafür trägt sie nun etwas, das sich wie ein Bettbezug anfühlt.
Die Tür zum Zimmer geht auf. Ein Mann im weißen Kittel tritt ein. Sie hat ihn noch nie gesehen, glaubt sie. Und doch kommt er ihr so vertraut vor. Er spricht zu ihr mit ruhiger Stimme: “Na, Kleines, ist ja gerade nochmal gut gegangen.” Erika schaut ihn ausdruckslos an. Sie versteht nicht, was er meint, wispert ihm aber ein “ja” entgegen. “Deine Eltern kommen gleich.”, spricht er mit gutmütiger Miene. “Setz’ ein schönes Lächeln auf. Das brauchen sie jetzt. Du hast ihnen einen ganz schönen Schreck eingejagt.” Sie lächelt angestrengt, so als würde sie ihr Lächeln für die Eltern üben.
Mama und Papa betreten wenige Minuten später den Raum, zusammen mit dem Mann in Weiß. Als sie in den Raum tritt, entfährt Mama ein spitzer Schrei. Sie fällt auf die Knie und bricht in Tränen aus. Papa bleibt stehen, stark, unverwüstlich. So kennt Erika ihn. Er geht auf ihr Bett zu. “Du dummes Gör!”, ruft er mit seiner Zornesfalte auf der Stirn, die sie so sehr fürchtet. “Warum guckst du denn nicht, wenn du über die Straße gehst?!” Sie zuckt zusammen. Seine Stimme trifft sie wie ein Schlag auf die Brust. Am liebsten würde sie sich unter der Decke verkriechen, doch sie kann sich ja kaum bewegen. Papas Zorn ertrinkt schnell in einem Schwall von Tränen. So kennt sie ihn nicht. Was ihr passiert ist, muss wohl doch schlimmer gewesen sein als gedacht.
Es werden Worte des Bedauerns und der Dankbarkeit zwischen dem Mann im Kittel und ihren Eltern gewechselt. Erika nimmt diese Worte teilnahmslos hin. Sie kann bloß Satzfetzen verstehen: “... schon tot… gerettet… nie wieder laufen…”
In ihrem Kopf schwirren diese Worte und Satzfetzen wie Gespenster umher. “Nie wieder laufen” - also auch nie wieder im Hopserlauf zur Schule gehen? Ja, mit ihren eingegipsten Beinen ganz bestimmt nicht.
Sie denkt an Gustav, an seine warmen Augen, seine Lippen. Oh, wenn er sie so sehen würde.
_____________
Seit diesem Tag sind etwa drei Monate vergangen. Vor zwei Wochen wurden ihr Gipse und Verbände abgenommen. Nun kann sie sich endlich wieder aufrichten. Erika hat erfahren, dass sie vor etwa vier Monaten einen Autounfall hatte. Erinnerungen daran hat sie keine. Sie weiß es nur von dem Mann, der sie angefahren hat. Er hat sie einmal besucht. Einen riesigen Strauß mit Nelken und Tulpen hat er mitgebracht. Sie sei wohl einfach gegen das Sonnenlicht auf die Straße gerannt, ohne zu schauen. Unzählige Meter sei sie durch die Luft geflogen.
Erika schaut ihn mitleidig an. Wie verzweifelt er aussah, als er bei ihr saß - als würde er am liebsten mit ihr tauschen. Bestimmt eintausend Mal hat er sich entschuldigt und erklärt, dass doch niemand etwas dafür könne; nicht er, nicht sie. Sie ließ ihn reden und zählte die Blumen. Es sind 25. 25 Mal verflucht sie ihn, still für sich. Dafür, dass er sie angefahren hat, auch wenn er wohl nichts dafür konnte.
Sie wollte das alles nicht. Nicht die Geschichte mit all den schrecklichen Einzelheiten, nicht seine Blumen - die stanken ja schon, als er den Raum betrat. Und den Unfall wollte sie sowieso nicht. Sie wollte sich doch bloß drei Groschen verdienen. Für ein Eis vom Eiswagen. Dafür war sie gerannt. Für die Nachbarin. Ein Brot vom Bäcker sollte sie holen, bevor alle weg sind.
Mama war, seit sie aufgewacht ist, jeden Tag bei ihr. Jeden Tag hat sie ihr vorgelesen, erst Märchen. Und als diese ausgingen, hat sie aus der Zeitung vorgelesen: die Lokalnachrichten, das Kinoprogramm, die Sterbeanzeigen. “Ach, sieh an, den gibt’s also auch nicht mehr.”, murmelte sie dann. “Gottlob mussten wir dich nicht dort annoncieren.”, sagte Mama zu ihr, halb erschreckt, halb erleichtert. Das sollte wohl tröstend sein.
Manchmal erzählt Mama von ihren großen Schwestern Marianne und Ulla, die sie ganz furchtbar vermissen würden. Warum sie denn dann so selten kommen, wenn es so ist, wollte Erika wissen. Doch darauf hatte Mama keine gute Antwort. “Die beiden müssen ja zur Schule, und nachmittags helfen sie dem Papa auf dem Gemüseacker." Sie will auch zurück in Papas Garten! Sie möchte wieder in der Erde wühlen. An die roten Rosen und den gelben Geranien riechen. Sie will zurück zu den Igeln im Laub, zu den Kaninchen, zum Duft der Tomatensträucher.
Ihre beste Freundin Ingrid hat sie noch nicht besucht, nicht ein einziges Mal. Dabei hätte sie so gern mit ihr eines ihrer Klatschspiele gespielt. “Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, in der Schule wird geschrieben, in der Schule wird gelacht, bis der Lehrer Handstand macht.” Das war ihr Lieblingsspiel während der Hofpausen. Sie kichert, als sie daran denkt, wie Ingrid und sie diesen Spruch einmal aufsagten und dabei von ihrem Lehrer erwischt wurden. Einen Handstand hat er nicht gemacht, nicht einmal gelächelt.
Ingrid ist die Einzige, die etwas von Erikas Liebe zu Gustav weiß. Sie hätte sie so gern gefragt, was Gustav so alles macht. Wenn sie an ihn denkt, dann spürt sie die Knospen ihrer Jugend an ihrem Körper. Sie wird zur Frau, ganz bestimmt. Und niemandem kann sie es sagen. Nicht einmal Ingrid. Sie wird bestimmt gar nicht mehr kommen. Ob sie wohl schon eine neue beste Freundin gefunden hat? Das wäre so gemein!
Nur ihr Lehrer kommt regelmäßig, jeden zweiten Tag. Er will, dass sie den Anschluss nicht verliert. Schreiben, lesen, rechnen - das ist wichtig. Ob sie ihn wohl mal nach Gustav fragen darf? Ihr Lehrer ist ja auch sein Lehrer. Vielleicht weiß er etwas.
_____________
Draußen fallen die ersten Schneeflocken. Erika sitzt am Fenster und schaut zu, wie der Hof langsam weiß wird. Die Welt da draußen ist leise geworden.
Sechs Monate ist es nun her, als sie in diesem grellweißen Zimmer aufwachte, aufgebahrt zur letzten Wache. Doch sie lebt noch – aber es fühlt sich nicht so an. Ihr Leben, das war im Garten zu spielen, zur Schule zu gehen und zum Eiswagen zu rennen, wenn es läutete.
Stattdessen humpelt Erika durch den Flur. Ihr linkes Bein ist durch die ganzen Operationen ganze vier Zentimeter kürzer als ihr rechtes. Jeder Schritt fällt ihr schwer, ihre Hüfte tut weh. Und doch geht sie jeden Tag den Flur einmal auf und einmal ab.
Sie kennt schon jede Ecke, jeden Winkel ihrer Station. Sie weiß, wie viele Wandlampen es gibt: 24. Sie hat die Schritte gezählt, die sie von einem Ende bis zum anderen des Flurs braucht: anfangs mit einem Gehbock 364, doch nun mit Krücken unter den Achseln nur noch 189. Ja, sie hat sogar die Fliesen auf dem Flur gezählt: es sind 576 plus zwei halbe am Durchgang zur nächsten Station.
Heute darf sie mit einem Mann von der Krankengymnastik in den Hof hinunter. “Das gute Bein geht zum Himmel, das schlechte Bein geht in die Hölle.” So erklärt es der Mann, der mit Erika das Treppensteigen übt. Wenn sie also die Treppe hinaufsteigt, dann soll sie mit dem guten Bein, dem rechten, vorangehen - und wenn sie hinabsteigt, dann zuerst mit ihrem schlechten Bein. Sie findet das komisch. Als wäre das rechte Bein besser als das linke. Dabei ist das linke Bein doch nur traurig.
Auf dem Hof ist es still, so totenstill. So still wie sie, als sie hier angekommen ist, denkt Erika. Nur dem knirschenden Schnee unter ihren Füßen kann sie hören. Ihr Blick streift über die Blumenbeete. Sie liegen unter einer zentimeterdicken Schneeschicht, wie unter Gips. So wie einmal ihr ganzer Körper.
Ihr steigen Tränen in die Augen. Wo sind die Farben hin, fragt sie sich. Wo ist der Garten von Papa, der Geruch von Erde, von Möhren, von Rosen? Die Mauern des Krankenhauses stehen sprachlos und kalt. Der Wind weht zwischen ihnen über den Hof. Die Wetterfahne auf dem Dach klirrt eintönig.
Erika fasst sich wieder. Wenn erst einmal der Schnee schmilzt, sagt sie sich, wenn die Blumen wieder blühen, dann wird auch sie wieder erblühen. Bis es soweit ist, wird sie mit jedem Tag ein wenig mehr das Gehen lernen. Inmitten des Winters entdeckt sie, dass es in ihr einen unbesiegbaren Sommer gibt.
_____________
Elf Monate sind vergangen. Mit der Zeit hat Erika das Laufen wieder erlernt - so gut, dass sie morgen nach Hause darf. Noch ein letztes Mal übt sie die Strecke am Handlauf, ganz ohne Gehhilfe. Jetzt bloß nicht stürzen, sonst behalten sie sie noch länger hier drin, denkt sie. Die ersten Schritte gelingen, wenn auch mit einigen Wacklern.
Sie geht vorsichtig den Flur entlang und schmiedet Pläne. Sie überlegt, was sie alles machen möchte, wenn sie erst einmal wieder zu Hause ist. Wieder im Garten spielen, wieder zum Eiswagen rennen, wenn es läutet. Und Gustav wiedersehen. Ganz besonders das.
Ihr Herz hüpft bei dem Gedanken an ihn ein bisschen. Fühlt sich so das Verliebtsein an?
Vielleicht geht er ja mit ihr ins Kino. Gerade läuft “Merlin und Mim”. Mama hat ihr davon aus der Zeitung vorgelesen. Das klang lustig. Gustav mag bestimmt lustige Sachen. Sie wird ihn einladen. Fünf Mark kostet eine Karte, zehn für zwei. Das ist viel. Sie wird monatelang ihrem Vater im Garten helfen müssen, um so viel Geld zu bekommen. Aber das ist es wert.
Sie erreicht das Ende des Flurs. Durch das offene Fenster strömt der Frühling. Sie atmet tief ein. Ganz tief.
Draußen, da blühen die Rosen.
Als Erika aufwacht, ist alles um sie herum grellweiß: die Decke, die Wände, das Neonlicht, ja, selbst die Lilien auf dem Tisch neben ihr, wie ausgeblichen. Daneben steht ein Kreuz, silbrig-glänzend. Es ist totenstill in diesem Zimmer. Da ist bloß dieses schrille, durchdringende Piepsen.
Ihr fallen die Augen wieder zu, als hingen Bleigewichte an ihren Lidern. Und sie träumt. Es ist einer dieser Träume, in denen sich alles so echt anfühlt. Im Traum steht sie auf dem Schulhof. Gerade hat die Schulglocke geläutet. Da sieht sie ihre erste große Liebe, Gustav: ein sportlicher, 13-jähriger Junge aus ihrer Schule, zwei Klassen über ihr. Sie bewundert ihn, schaut heimlich zu ihm hinüber. Es darf nur keiner ihre scheuen Blicke bemerken. Er ist so mutig! Neulich kletterte er ohne Hilfe auf einen Baum und holte von dort einen Fußball herunter. Er soll sogar schon einmal ein Mädchen geküsst haben. Oh, wenn sie ihn doch auch küssen könnte.
Erika erwacht wieder. Sie versucht, Arme und Beine zu bewegen. Doch die reagieren nicht. Nur den Kopf kann sie leicht heben. Sie blickt an sich herab. Es scheint alles noch dran zu sein. Ihre Arme sind da, die Beine auch, wenn auch eingegipst. Was ist nur passiert? Das linke Bein baumelt hochgebunden über dem Bett wie ein abgestorbener Ast. Ihr schönes Sommerkleid wurde ihr ausgezogen. Dafür trägt sie nun etwas, das sich wie ein Bettbezug anfühlt.
Die Tür zum Zimmer geht auf. Ein Mann im weißen Kittel tritt ein. Sie hat ihn noch nie gesehen, glaubt sie. Und doch kommt er ihr so vertraut vor. Er spricht zu ihr mit ruhiger Stimme: “Na, Kleines, ist ja gerade nochmal gut gegangen.” Erika schaut ihn ausdruckslos an. Sie versteht nicht, was er meint, wispert ihm aber ein “ja” entgegen. “Deine Eltern kommen gleich.”, spricht er mit gutmütiger Miene. “Setz’ ein schönes Lächeln auf. Das brauchen sie jetzt. Du hast ihnen einen ganz schönen Schreck eingejagt.” Sie lächelt angestrengt, so als würde sie ihr Lächeln für die Eltern üben.
Mama und Papa betreten wenige Minuten später den Raum, zusammen mit dem Mann in Weiß. Als sie in den Raum tritt, entfährt Mama ein spitzer Schrei. Sie fällt auf die Knie und bricht in Tränen aus. Papa bleibt stehen, stark, unverwüstlich. So kennt Erika ihn. Er geht auf ihr Bett zu. “Du dummes Gör!”, ruft er mit seiner Zornesfalte auf der Stirn, die sie so sehr fürchtet. “Warum guckst du denn nicht, wenn du über die Straße gehst?!” Sie zuckt zusammen. Seine Stimme trifft sie wie ein Schlag auf die Brust. Am liebsten würde sie sich unter der Decke verkriechen, doch sie kann sich ja kaum bewegen. Papas Zorn ertrinkt schnell in einem Schwall von Tränen. So kennt sie ihn nicht. Was ihr passiert ist, muss wohl doch schlimmer gewesen sein als gedacht.
Es werden Worte des Bedauerns und der Dankbarkeit zwischen dem Mann im Kittel und ihren Eltern gewechselt. Erika nimmt diese Worte teilnahmslos hin. Sie kann bloß Satzfetzen verstehen: “... schon tot… gerettet… nie wieder laufen…”
In ihrem Kopf schwirren diese Worte und Satzfetzen wie Gespenster umher. “Nie wieder laufen” - also auch nie wieder im Hopserlauf zur Schule gehen? Ja, mit ihren eingegipsten Beinen ganz bestimmt nicht.
Sie denkt an Gustav, an seine warmen Augen, seine Lippen. Oh, wenn er sie so sehen würde.
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Seit diesem Tag sind etwa drei Monate vergangen. Vor zwei Wochen wurden ihr Gipse und Verbände abgenommen. Nun kann sie sich endlich wieder aufrichten. Erika hat erfahren, dass sie vor etwa vier Monaten einen Autounfall hatte. Erinnerungen daran hat sie keine. Sie weiß es nur von dem Mann, der sie angefahren hat. Er hat sie einmal besucht. Einen riesigen Strauß mit Nelken und Tulpen hat er mitgebracht. Sie sei wohl einfach gegen das Sonnenlicht auf die Straße gerannt, ohne zu schauen. Unzählige Meter sei sie durch die Luft geflogen.
Erika schaut ihn mitleidig an. Wie verzweifelt er aussah, als er bei ihr saß - als würde er am liebsten mit ihr tauschen. Bestimmt eintausend Mal hat er sich entschuldigt und erklärt, dass doch niemand etwas dafür könne; nicht er, nicht sie. Sie ließ ihn reden und zählte die Blumen. Es sind 25. 25 Mal verflucht sie ihn, still für sich. Dafür, dass er sie angefahren hat, auch wenn er wohl nichts dafür konnte.
Sie wollte das alles nicht. Nicht die Geschichte mit all den schrecklichen Einzelheiten, nicht seine Blumen - die stanken ja schon, als er den Raum betrat. Und den Unfall wollte sie sowieso nicht. Sie wollte sich doch bloß drei Groschen verdienen. Für ein Eis vom Eiswagen. Dafür war sie gerannt. Für die Nachbarin. Ein Brot vom Bäcker sollte sie holen, bevor alle weg sind.
Mama war, seit sie aufgewacht ist, jeden Tag bei ihr. Jeden Tag hat sie ihr vorgelesen, erst Märchen. Und als diese ausgingen, hat sie aus der Zeitung vorgelesen: die Lokalnachrichten, das Kinoprogramm, die Sterbeanzeigen. “Ach, sieh an, den gibt’s also auch nicht mehr.”, murmelte sie dann. “Gottlob mussten wir dich nicht dort annoncieren.”, sagte Mama zu ihr, halb erschreckt, halb erleichtert. Das sollte wohl tröstend sein.
Manchmal erzählt Mama von ihren großen Schwestern Marianne und Ulla, die sie ganz furchtbar vermissen würden. Warum sie denn dann so selten kommen, wenn es so ist, wollte Erika wissen. Doch darauf hatte Mama keine gute Antwort. “Die beiden müssen ja zur Schule, und nachmittags helfen sie dem Papa auf dem Gemüseacker." Sie will auch zurück in Papas Garten! Sie möchte wieder in der Erde wühlen. An die roten Rosen und den gelben Geranien riechen. Sie will zurück zu den Igeln im Laub, zu den Kaninchen, zum Duft der Tomatensträucher.
Ihre beste Freundin Ingrid hat sie noch nicht besucht, nicht ein einziges Mal. Dabei hätte sie so gern mit ihr eines ihrer Klatschspiele gespielt. “Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, in der Schule wird geschrieben, in der Schule wird gelacht, bis der Lehrer Handstand macht.” Das war ihr Lieblingsspiel während der Hofpausen. Sie kichert, als sie daran denkt, wie Ingrid und sie diesen Spruch einmal aufsagten und dabei von ihrem Lehrer erwischt wurden. Einen Handstand hat er nicht gemacht, nicht einmal gelächelt.
Ingrid ist die Einzige, die etwas von Erikas Liebe zu Gustav weiß. Sie hätte sie so gern gefragt, was Gustav so alles macht. Wenn sie an ihn denkt, dann spürt sie die Knospen ihrer Jugend an ihrem Körper. Sie wird zur Frau, ganz bestimmt. Und niemandem kann sie es sagen. Nicht einmal Ingrid. Sie wird bestimmt gar nicht mehr kommen. Ob sie wohl schon eine neue beste Freundin gefunden hat? Das wäre so gemein!
Nur ihr Lehrer kommt regelmäßig, jeden zweiten Tag. Er will, dass sie den Anschluss nicht verliert. Schreiben, lesen, rechnen - das ist wichtig. Ob sie ihn wohl mal nach Gustav fragen darf? Ihr Lehrer ist ja auch sein Lehrer. Vielleicht weiß er etwas.
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Draußen fallen die ersten Schneeflocken. Erika sitzt am Fenster und schaut zu, wie der Hof langsam weiß wird. Die Welt da draußen ist leise geworden.
Sechs Monate ist es nun her, als sie in diesem grellweißen Zimmer aufwachte, aufgebahrt zur letzten Wache. Doch sie lebt noch – aber es fühlt sich nicht so an. Ihr Leben, das war im Garten zu spielen, zur Schule zu gehen und zum Eiswagen zu rennen, wenn es läutete.
Stattdessen humpelt Erika durch den Flur. Ihr linkes Bein ist durch die ganzen Operationen ganze vier Zentimeter kürzer als ihr rechtes. Jeder Schritt fällt ihr schwer, ihre Hüfte tut weh. Und doch geht sie jeden Tag den Flur einmal auf und einmal ab.
Sie kennt schon jede Ecke, jeden Winkel ihrer Station. Sie weiß, wie viele Wandlampen es gibt: 24. Sie hat die Schritte gezählt, die sie von einem Ende bis zum anderen des Flurs braucht: anfangs mit einem Gehbock 364, doch nun mit Krücken unter den Achseln nur noch 189. Ja, sie hat sogar die Fliesen auf dem Flur gezählt: es sind 576 plus zwei halbe am Durchgang zur nächsten Station.
Heute darf sie mit einem Mann von der Krankengymnastik in den Hof hinunter. “Das gute Bein geht zum Himmel, das schlechte Bein geht in die Hölle.” So erklärt es der Mann, der mit Erika das Treppensteigen übt. Wenn sie also die Treppe hinaufsteigt, dann soll sie mit dem guten Bein, dem rechten, vorangehen - und wenn sie hinabsteigt, dann zuerst mit ihrem schlechten Bein. Sie findet das komisch. Als wäre das rechte Bein besser als das linke. Dabei ist das linke Bein doch nur traurig.
Auf dem Hof ist es still, so totenstill. So still wie sie, als sie hier angekommen ist, denkt Erika. Nur dem knirschenden Schnee unter ihren Füßen kann sie hören. Ihr Blick streift über die Blumenbeete. Sie liegen unter einer zentimeterdicken Schneeschicht, wie unter Gips. So wie einmal ihr ganzer Körper.
Ihr steigen Tränen in die Augen. Wo sind die Farben hin, fragt sie sich. Wo ist der Garten von Papa, der Geruch von Erde, von Möhren, von Rosen? Die Mauern des Krankenhauses stehen sprachlos und kalt. Der Wind weht zwischen ihnen über den Hof. Die Wetterfahne auf dem Dach klirrt eintönig.
Erika fasst sich wieder. Wenn erst einmal der Schnee schmilzt, sagt sie sich, wenn die Blumen wieder blühen, dann wird auch sie wieder erblühen. Bis es soweit ist, wird sie mit jedem Tag ein wenig mehr das Gehen lernen. Inmitten des Winters entdeckt sie, dass es in ihr einen unbesiegbaren Sommer gibt.
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Elf Monate sind vergangen. Mit der Zeit hat Erika das Laufen wieder erlernt - so gut, dass sie morgen nach Hause darf. Noch ein letztes Mal übt sie die Strecke am Handlauf, ganz ohne Gehhilfe. Jetzt bloß nicht stürzen, sonst behalten sie sie noch länger hier drin, denkt sie. Die ersten Schritte gelingen, wenn auch mit einigen Wacklern.
Sie geht vorsichtig den Flur entlang und schmiedet Pläne. Sie überlegt, was sie alles machen möchte, wenn sie erst einmal wieder zu Hause ist. Wieder im Garten spielen, wieder zum Eiswagen rennen, wenn es läutet. Und Gustav wiedersehen. Ganz besonders das.
Ihr Herz hüpft bei dem Gedanken an ihn ein bisschen. Fühlt sich so das Verliebtsein an?
Vielleicht geht er ja mit ihr ins Kino. Gerade läuft “Merlin und Mim”. Mama hat ihr davon aus der Zeitung vorgelesen. Das klang lustig. Gustav mag bestimmt lustige Sachen. Sie wird ihn einladen. Fünf Mark kostet eine Karte, zehn für zwei. Das ist viel. Sie wird monatelang ihrem Vater im Garten helfen müssen, um so viel Geld zu bekommen. Aber das ist es wert.
Sie erreicht das Ende des Flurs. Durch das offene Fenster strömt der Frühling. Sie atmet tief ein. Ganz tief.
Draußen, da blühen die Rosen.