Grüne Pferde
Ich sitze entspannt im Bett, in meiner üblichen Haltung. Den Kopf und die Schultern stützen zwei Kissen, damit ich nicht zu weit nach unten rutsche, die Beine sind unter der Bettdecke angewinkelt und bilden so die perfekte Buchablage. Ich lese „Holly“ von Stephen King. Einer meiner Lieblingsschriftsteller, wenn nicht sogar der Liebste. Er hat mir in „Billy Summers“ von der flüchtigen Kühle unter einem Kissen erzählt und für diese begnadete Beobachtung muss ich ihn einfach lieben. Auch, weil ich selbst gern meine Hände unter ein Kissen schiebe und diese flüchtige Kühle genieße, so kurz sie auch anhält.
„Holly“ ist so eine Art von Buch, das ich nicht einfach aus der Hand legen kann. Immer drängt es mich zur nächsten Seite, obwohl der Plot so offen angelegt ist, dass schon am Anfang klar ist, wohin die Reise geht und wer die Mörder sind. Trotzdem.
Irgendwann nehme ich ihn am Rande wahr, den Druck, der klammheimlich meine Augen und meine Stirn befallen hat. Und ignoriere ihn. Lese weiter. Lese, bis ich ihn einfach nicht mehr ignorieren kann, denn aus dem anfänglichen Druck ist inzwischen ein hübsch ordentlicher Schmerz geworden. Seufzend lege ich das Buch nun doch zur Seite und stehe auf, um mir eine Tablette zu holen. Barfuß tappe ich in die Küche. Draußen ist es hell, vielleicht vier Uhr am Nachmittag und die Sonne leuchtet zum Küchenfenster herein. Schnell schlucke ich eine IBU und trinke ein halbes Glas Wasser dazu. Neben mir summt der Kühlschrank und ich öffne ihn, weil mich das Summen triggert wie eine Katze das Geräusch einer quiekenden Maus. Ich weiß, ich sollte nicht, schließlich habe ich Diabetes, aber ich nehme mir trotzdem die Packung Schokorosinen, die ich mir gestern in einem Anfall von Fresslust gekauft habe, schütte sie in ein Schälchen, klemme mir dazu eine Cola Zero unter den Arm (immerhin die ist zuckerfrei) und gehe wieder ins Bett. „Holly“ nimmt mich erneut gefangen, aber es ist mühsamer, der Geschichte zu folgen, wenn der Kopf brummt. Na, vielleicht hilft ja der Zuckerschub meinem Gehirn, seine Balance wieder zu finden. Ich genehmige mir die Hälfte der Schokorosinen und genieße die schmelzende Schokolade im Mund und die Süße der Rosinen.
Nach einer weiteren Stunde, in der sich der Kopfschmerz potenziert statt verringert, lege ich das Buch erneut weg und hole mir eine Paracetamol, welche der IBU Gesellschaft leisten soll. Meistens reicht diese Kombi aus, den Kopfschmerz so weit zu dämpfen, dass ich weiter das tun kann, was ich tun möchte. Um das zu beschleunigen, lege ich mich ohne mein Buch ins Bett, einen kühlenden Waschlappen auf der pochenden Stirn und den Augen und versuche, die Medizin ihre Arbeit machen zu lassen.
Eine halbe Stunde später muss ich mir jedoch eingestehen, dass es sich nicht um normale Kopfschmerzen, sondern um einen Migräneanfall handelt, der an Intensität beständig zunimmt. Jeder Pulsschlag im Kopf fühlt sich inzwischen so an, als ob eine beträchtliche Anzahl von Birdy Einsteins Trinkvögeln mir beständig in die Schläfen hämmert, mit glühenden Schnabelspitzen bestückt. Jede Bewegung ist eine zu viel. Trotzdem schleppe ich mich noch einmal in die Küche, um eine zweite Paracetamol zu schlucken, in der Hoffnung, dass viel viel hilft.
Zurück im Schlafzimmer schließe ich das offene Fenster. Das Bellen des Nachbarhundes, das Kreischen der spielenden Kinder auf der Wiese vor dem Haus und das Geplaudere der Spaziergänger auf der Straße halte ich gerade nicht aus. Außerdem ziehe ich den Vorhang zu. Das Dämmerlicht tut gut. Oder zumindest nicht so weh.
Erneut lege ich mich hin und versuche, den Schmerz auszuhalten. Aber egal wie ich liege, in jeder Position wird er schlimmer und schlimmer. Ablenkung, ich brauche eine Ablenkung! Wie gern würde ich mich jetzt mit Lesen ablenken, aber daran ist gerade nicht zu denken. Also denke ich einfach nur. An etwas Schönes! Das Erste, was mir Schönes durch den Kopf schießt, sind Pferde. Pferde auf einer grünen Wiese. Während ich das denke, sehe ich bereits ein erstes Pferd in mein inneres Blickfeld traben. Anmutig wölbt es den Hals, die Mähne fliegt, die Hufe tänzeln. Aber ich erhasche immer nur Einzelheiten, hier ein gespitztes Ohr, da eine glänzende Flanke, dort die schnaubenden Nüstern. Als ob ein Künstler zwar ein ganzes Pferd entworfen, dann aber einzelne Stellen ausradiert hat, so dass sich das Gesamtbild nur erahnen lässt. Auch ist es farblos, durchsichtig wie ein Geist. Schon schwebt ein zweites halbfertiges Ross heran, dann ein drittes, ein viertes. Im Gegensatz dazu ist die Wiese sattgrün, detailreich und sehr plastisch in meinem Kopf.
Für kurze Zeit gelingt es mir, in dieses Bild der Bewegung, der halben Linien und grünen Grasspitzen einzutauchen und genauso kurz scheint es zu helfen, aber die Migräne hat natürlich noch andere Mittel, um mich klein zu kriegen. Schmerzen allein sind eben nicht genug, nein, mein Kopf reagiert mit der einzigen Antwort auf diese Schmerzen, die ihm Sinn macht: mir wird kotzübel. Pferde auf einer grünen Wiese! Pferde auf einer grünen Wiese! denke ich verzweifelt mein Mantra, nicht gewillt, der Migräne und der Übelkeit den Triumpf zu gönnen, dass ich mich hier und jetzt übergeben muss.
Wieder sehe ich Pferdefetzen, Pferdeschemen über die Wiese gleiten und um sie zu manifestieren, denke ich an Pferdefarben. Braune, Füchse, Schimmel, Rappen, ganz egal, Hauptsache, sie helfen, den Tieren Gestalt zu geben. Pferde auf einer grünen Wiese! hallt es durch meinen Kopf, während sich mein Atem beschleunigt, mein Herz rast und mein Körper buckeln will wie ein Rodeopferd. Ich klammere mich an dem Gedanken fest, an der Schönheit der Tiere, an der Saftigkeit des grünen Grases. Und plötzlich haben die Pferde eine Farbe. Grüne Pferde auf einer saftigen Wiese. Grüne Pferde!
Das ist der Moment, in dem ich beide Beine aus dem Bett schwinge und ins Bad renne. Ich bin immer noch nicht bereit, nachzugeben, hocke mich aber vorsichtshalber vor die Kloschüssel, schwer atmend wie nach einem langen Sprint, konzentriert auf das Bild der grünen Pferde in meinem Kopf, die mir helfen sollen, die Kontrolle über meinen Körper zu bewahren.
Ich starre in das klare Wasser und möchte am liebsten heulen. Scheiß Migräne! SCHEISS MIGRÄNE!!! Da sehe ich aus den Augenwinkeln etwas Grünes, das sich auf dem Rand des Porzellans spiegelt. In meinem Kopf verblassen die Farben und die Konturen der Pferde lösen sich endgültig auf. Grüne Pferde! denke ich ein letztes Mal. Dann übergebe ich mich viermal in Folge.
Nachdem ich mir den letzten bitteren Schokoladengeschmack aus dem Mund gespült habe, lege ich mich wieder in mein Bett. Die Migräne hat ihren Willen bekommen und ist nun sanfter zu mir, erlaubt es, dass ich mich erschöpft in meine Decke wickeln und ausruhen darf. Nachdem der größte Sturm vorüber ist, kann ich nicht anders: ich greife zu „Holly“ und lese weiter.
Ich sitze entspannt im Bett, in meiner üblichen Haltung. Den Kopf und die Schultern stützen zwei Kissen, damit ich nicht zu weit nach unten rutsche, die Beine sind unter der Bettdecke angewinkelt und bilden so die perfekte Buchablage. Ich lese „Holly“ von Stephen King. Einer meiner Lieblingsschriftsteller, wenn nicht sogar der Liebste. Er hat mir in „Billy Summers“ von der flüchtigen Kühle unter einem Kissen erzählt und für diese begnadete Beobachtung muss ich ihn einfach lieben. Auch, weil ich selbst gern meine Hände unter ein Kissen schiebe und diese flüchtige Kühle genieße, so kurz sie auch anhält.
„Holly“ ist so eine Art von Buch, das ich nicht einfach aus der Hand legen kann. Immer drängt es mich zur nächsten Seite, obwohl der Plot so offen angelegt ist, dass schon am Anfang klar ist, wohin die Reise geht und wer die Mörder sind. Trotzdem.
Irgendwann nehme ich ihn am Rande wahr, den Druck, der klammheimlich meine Augen und meine Stirn befallen hat. Und ignoriere ihn. Lese weiter. Lese, bis ich ihn einfach nicht mehr ignorieren kann, denn aus dem anfänglichen Druck ist inzwischen ein hübsch ordentlicher Schmerz geworden. Seufzend lege ich das Buch nun doch zur Seite und stehe auf, um mir eine Tablette zu holen. Barfuß tappe ich in die Küche. Draußen ist es hell, vielleicht vier Uhr am Nachmittag und die Sonne leuchtet zum Küchenfenster herein. Schnell schlucke ich eine IBU und trinke ein halbes Glas Wasser dazu. Neben mir summt der Kühlschrank und ich öffne ihn, weil mich das Summen triggert wie eine Katze das Geräusch einer quiekenden Maus. Ich weiß, ich sollte nicht, schließlich habe ich Diabetes, aber ich nehme mir trotzdem die Packung Schokorosinen, die ich mir gestern in einem Anfall von Fresslust gekauft habe, schütte sie in ein Schälchen, klemme mir dazu eine Cola Zero unter den Arm (immerhin die ist zuckerfrei) und gehe wieder ins Bett. „Holly“ nimmt mich erneut gefangen, aber es ist mühsamer, der Geschichte zu folgen, wenn der Kopf brummt. Na, vielleicht hilft ja der Zuckerschub meinem Gehirn, seine Balance wieder zu finden. Ich genehmige mir die Hälfte der Schokorosinen und genieße die schmelzende Schokolade im Mund und die Süße der Rosinen.
Nach einer weiteren Stunde, in der sich der Kopfschmerz potenziert statt verringert, lege ich das Buch erneut weg und hole mir eine Paracetamol, welche der IBU Gesellschaft leisten soll. Meistens reicht diese Kombi aus, den Kopfschmerz so weit zu dämpfen, dass ich weiter das tun kann, was ich tun möchte. Um das zu beschleunigen, lege ich mich ohne mein Buch ins Bett, einen kühlenden Waschlappen auf der pochenden Stirn und den Augen und versuche, die Medizin ihre Arbeit machen zu lassen.
Eine halbe Stunde später muss ich mir jedoch eingestehen, dass es sich nicht um normale Kopfschmerzen, sondern um einen Migräneanfall handelt, der an Intensität beständig zunimmt. Jeder Pulsschlag im Kopf fühlt sich inzwischen so an, als ob eine beträchtliche Anzahl von Birdy Einsteins Trinkvögeln mir beständig in die Schläfen hämmert, mit glühenden Schnabelspitzen bestückt. Jede Bewegung ist eine zu viel. Trotzdem schleppe ich mich noch einmal in die Küche, um eine zweite Paracetamol zu schlucken, in der Hoffnung, dass viel viel hilft.
Zurück im Schlafzimmer schließe ich das offene Fenster. Das Bellen des Nachbarhundes, das Kreischen der spielenden Kinder auf der Wiese vor dem Haus und das Geplaudere der Spaziergänger auf der Straße halte ich gerade nicht aus. Außerdem ziehe ich den Vorhang zu. Das Dämmerlicht tut gut. Oder zumindest nicht so weh.
Erneut lege ich mich hin und versuche, den Schmerz auszuhalten. Aber egal wie ich liege, in jeder Position wird er schlimmer und schlimmer. Ablenkung, ich brauche eine Ablenkung! Wie gern würde ich mich jetzt mit Lesen ablenken, aber daran ist gerade nicht zu denken. Also denke ich einfach nur. An etwas Schönes! Das Erste, was mir Schönes durch den Kopf schießt, sind Pferde. Pferde auf einer grünen Wiese. Während ich das denke, sehe ich bereits ein erstes Pferd in mein inneres Blickfeld traben. Anmutig wölbt es den Hals, die Mähne fliegt, die Hufe tänzeln. Aber ich erhasche immer nur Einzelheiten, hier ein gespitztes Ohr, da eine glänzende Flanke, dort die schnaubenden Nüstern. Als ob ein Künstler zwar ein ganzes Pferd entworfen, dann aber einzelne Stellen ausradiert hat, so dass sich das Gesamtbild nur erahnen lässt. Auch ist es farblos, durchsichtig wie ein Geist. Schon schwebt ein zweites halbfertiges Ross heran, dann ein drittes, ein viertes. Im Gegensatz dazu ist die Wiese sattgrün, detailreich und sehr plastisch in meinem Kopf.
Für kurze Zeit gelingt es mir, in dieses Bild der Bewegung, der halben Linien und grünen Grasspitzen einzutauchen und genauso kurz scheint es zu helfen, aber die Migräne hat natürlich noch andere Mittel, um mich klein zu kriegen. Schmerzen allein sind eben nicht genug, nein, mein Kopf reagiert mit der einzigen Antwort auf diese Schmerzen, die ihm Sinn macht: mir wird kotzübel. Pferde auf einer grünen Wiese! Pferde auf einer grünen Wiese! denke ich verzweifelt mein Mantra, nicht gewillt, der Migräne und der Übelkeit den Triumpf zu gönnen, dass ich mich hier und jetzt übergeben muss.
Wieder sehe ich Pferdefetzen, Pferdeschemen über die Wiese gleiten und um sie zu manifestieren, denke ich an Pferdefarben. Braune, Füchse, Schimmel, Rappen, ganz egal, Hauptsache, sie helfen, den Tieren Gestalt zu geben. Pferde auf einer grünen Wiese! hallt es durch meinen Kopf, während sich mein Atem beschleunigt, mein Herz rast und mein Körper buckeln will wie ein Rodeopferd. Ich klammere mich an dem Gedanken fest, an der Schönheit der Tiere, an der Saftigkeit des grünen Grases. Und plötzlich haben die Pferde eine Farbe. Grüne Pferde auf einer saftigen Wiese. Grüne Pferde!
Das ist der Moment, in dem ich beide Beine aus dem Bett schwinge und ins Bad renne. Ich bin immer noch nicht bereit, nachzugeben, hocke mich aber vorsichtshalber vor die Kloschüssel, schwer atmend wie nach einem langen Sprint, konzentriert auf das Bild der grünen Pferde in meinem Kopf, die mir helfen sollen, die Kontrolle über meinen Körper zu bewahren.
Ich starre in das klare Wasser und möchte am liebsten heulen. Scheiß Migräne! SCHEISS MIGRÄNE!!! Da sehe ich aus den Augenwinkeln etwas Grünes, das sich auf dem Rand des Porzellans spiegelt. In meinem Kopf verblassen die Farben und die Konturen der Pferde lösen sich endgültig auf. Grüne Pferde! denke ich ein letztes Mal. Dann übergebe ich mich viermal in Folge.
Nachdem ich mir den letzten bitteren Schokoladengeschmack aus dem Mund gespült habe, lege ich mich wieder in mein Bett. Die Migräne hat ihren Willen bekommen und ist nun sanfter zu mir, erlaubt es, dass ich mich erschöpft in meine Decke wickeln und ausruhen darf. Nachdem der größte Sturm vorüber ist, kann ich nicht anders: ich greife zu „Holly“ und lese weiter.
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