Liebe sofakatze,
warum ist dieses Gedicht so traurig? Zunächst ist es ja nicht mehr als ein LI, das in einfachen Worten seine Traurigkeit darüber beschreibt, nicht bei einem geliebten Menschen zu sein. Und man mag schulterzuckend entgegenhalten: "Wen interessieren zufällige Einzelschicksale?"
Aber, mal abgesehen davon, dass Einzelschicksale das Leben ausmachen und ich demjenigen mit der Gegenfrage antworten würde, wen apathische Einzelmeinungen interessieren, sind die Gründe, weswegen dieses Gedicht eine so mächtige Melancholie vermittelt, in der Tat sehr berührend:
Zunächst steckt ja im ersten Vers diese Allusion auf das berühmte Heine-Gedicht und alles, was Heines Loreley vermittelt, liegt dann wie ein schwermütiger Nebel auf deinem Gedicht und wird durch den daran angelehnten Rhythmus getragen. Es schält sich das Bewusstsein hervor, dass hier ein LI ertrinkt, noch ehe man sich dem zweiten Vers nähern kann. Auf dieses Empfinden geeicht, muss man dann lesen, wie hier jemand tatsächlich hilflos ist, nicht dem Schicksal entwinden kann und schließlich in seinen Tränen ertrinkt. Der metaphorische Untergang eines Menschen, der nur "nach Hause" will, zum Geliebten und nichts findet als tiefe Sehnsucht ist weit mehr als "nur ein bisschen Traurigkeit". Er ist gerade weil er in unterschiedlichen Formen auftretend, eine universell menschliche Erfahrung darstellt, ein Sinnbild der Tragödie, dass diejenige Empfindsamkeit, die uns die Freude des Lebens in der Hinneigung zum Anderen finden lässt, zugleich die Quelle tiefsten Leids sein kann. Und nur deshalb zuckt mancher darüber die Schultern, weil er solche Empfindsamkeit nicht wagen will.
Dabei betont das Gedicht aber sehr subtil und unaufgeregt, dass diese Empfindsamkeit auch angesichts der unverhohlen leidvollen Aspekte und des erläuterten Widersinns absolut erstrebenswert ist. Die wiederholte Warum-Frage weist zwar einerseits auf die Sinnlosigkeit der unerfüllten Sehnsucht hin, denn natürlich wäre es ja alles ganz einfach, wenn das LD hier wäre. Die Frage selbst zeugt ja davon, dass mit der Situation nichts anzufangen sei. Andererseits: Wenn man die rhetorische Frage für sich beantworten will, was es bedeute, dass das LI so traurig sei, scheint die Antwort klar zu sein: "Dass ich dich liebe." Und obgleich man es als sinnlos und ungerecht empfinden mag, dass ausgerechnet die Liebe zu solchem Leid Anlass gibt, verleiht es doch auch dem Leiden selbst einen Sinn im Abstrakten, selbst angesichts der klar kommunizierten Sinnlosigkeit des konkreten Erlebens. Das erweckt den Eindruck, dass sich da zwangsläufig ein Leidensgleichgewicht einstellt, wenn das Sinnlose an Sinn gewinnt und das Sinnhafte mit sinnlosem Schmerz vermengt wird.
Allerdings ist die Sinnhaftigkeit in dem Gedicht eher hintergründig, während das konkret Sinnlose im Vordergrund abläuft. Das Gedicht gibt es dem Leser nicht einfach als Geschenk, sondern verlangt ihm ab, durch die leidvolle Erfahrung hindurch zu gehen und das Glück dahinter selbst zu erkennen - eine Übung, wie sie das Leben uns täglich stellt. In S1V3-4 bezieht sich die Sinnlosigkeit auf einen natürlichen, unabwendbaren und ansonsten trivialen Vorgang: Ein Tag geht zu Ende - daran ist zunächst nichts außergewöhnlich. Aber selbst die trivialsten Dinge erscheinen sinnlos und ungerecht, wenn einem das Wichtigste fehlt. Wozu noch ins Bett gehen? Wozu noch aufstehen? Wozu essen? Wozu atmen? Könnte man den Gedankenfaden weiterfädeln. Hier wird man ganz schön erschlagen, da man ahnt, wie die Melancholie alles Erleben durchzieht und es keine Luftblase gibt, in der man davor sicher ist. Dies ist Weltschmerz, mit einfachen Worten und unscheinbaren Beobachtungen auf den Punkt gebracht. Umso beeindruckender, wenn man, wie ich, nicht mal die Worte findet, um bei Subway zu bestellen. :wink:
Um all dem sinnlosen Leid zu entkommen, gibt es nur den Ausweg ins Hintergründige, wie du durch die Variation der Frage am Ende andeutest. Als ich das Gedicht zum ersten Mal gelesen habe, war ich paradoxerweise sogar etwas erleichtert, als diese Warum-Frage am Ende auftauchte. Zunächst habe ich nicht verstanden, woher diese Erleichterung rührt. Schließlich geht es um die Unklarheit darüber, warum das LI weint. Zumindest konnte ich aber mir (wenn vielleicht sonst niemandem) durch meine Ausführungen verständlich machen, dass in der Antwort auf diese Frage der sinnhafte Rahmen unserer sinnlos-leidvollen Erfahrungen liegt. Hier ist es die Liebe, die das Leben rechtfertigt. Man könnte es schrittweise verallgemeinern: Glück, Schönheit, Ich-Bewusstsein, Lernen, das Leben selbst ist es, das das Leben rechtfertigt. Schließlich könnte man ja all dem Leid entkommen, wenn einem das Leben egal wäre - egal, aber freud- und bedeutungslos wie ein Mensch, der sich nicht für zufällige Einzelschicksale interessiert. :classic_smile:
Was ich wohl nur damit sagen wollte: Cooles Gedicht! :wink:
LG
P.S.: Ich hätte noch eine Menge zum Klang schreiben können, aber irgendwann ist ja mal gut. :wink: