Leben mit Sozialphobie
Zitternd saß sie in der Ecke des Badezimmers. Ihr Herz raste, es hämmerte schmerzhaft in ihrer Brust. Ihr Atem ging keuchend, sie hyperventilierte. Ihr Gesicht war kreidebleich, ihre kalten Finger fest ineinandergehakt. Immer wieder wimmerte sie leise, dazwischen flüsterte sie:
"Das geht vorüber, es wird gleich vorbei sein, das geht vorüber, es wird gleich vorbei sein."
Es ging immer vorüber. Aber warum musste es heute passieren? Warum musste es jetzt passieren?Sie wusste es ja.
Sie würde sich wieder selbst überwinden müssen, würde etwas tun müssen, was sie nicht wollte, was aber notwendig war.Sie musste einkaufen gehen. Musste den Schutz ihrer Wohnung verlassen und sich nach draußen begeben. Unter andere Menschen.
Die Wohnung verlassen. Durch das Treppenhaus gehen, das Haus verlassen, die Straße entlang gehen bis zum Supermarkt, den Supermarkt betreten, alle Sachen, die sie brauchte, in den Einkaufswagen legen und sich an der Kasse anstellen, bis sie an der Reihe war. Die Waren aufs Band legen, bezahlen, in den mitgebrachten Rucksack packen und nach Hause gehen. Die Straße entlang bis zum Haus, durch das Treppenhaus, bis sie endlich wieder im sicheren Schutz ihrer Wohnung sein würde. Und bis dahin? Menschen. Andere Menschen. Fremde Menschen. Bekannte Menschen. Menschen. Und Angst. Todesangst. Vor all diesen Menschen.
Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als dieses nicht tun zu müssen. Aber sie hatte keine Wahl. Vier Tage lang hatte sie sich nur von Brot und Margarine ernährt, weil nichts anderes mehr da war. Und gestern Morgen war ihr auch das Brot ausgegangen...
Seitdem hungerte sie. Bis jetzt war ihre Angst größer gewesen als das Verlangen nach Nahrung, aber inzwischen war ihr übel vor Hunger und ihr war leicht schwindelig. Oder lag das an der Angst? Sie wusste es nicht, konnte es nicht unterscheiden. Sie würde warten, bis die Panikattacke abgeklungen war und dann weiter sehen. Vielleicht lag es ja doch nur an der Angst, vielleicht war der Hunger noch gar nicht so arg. Bestimmt war er es nicht. Und wenn doch... ach, dann war das auch nicht so schlimm. Der Mensch konnte eine ganze Weile ohne Nahrung auskommen. Sie konnte ja Leitungswasser trinken. Das würde sicher reichen. Sie war eh zu dick, ein bisschen abnehmen konnte also ohnehin nicht schaden. Genau, sie musste heute gar nicht raus zum Einkaufen!
Zwei Tage später starrte sie verzweifelt in den Küchenschrank. Nichts. Absolut nichts. Nicht der kleinste Krümel Essbares war noch da. Egal wie oft sie nach sah. Der Hunger wühlte schmerzhaft in ihr. Weinend sank sie auf den Küchenboden. Sie wollte nicht raus! Da waren Menschen, da war es gefährlich! Aber ihr blieb keine Wahl. Obwohl... eigentlich doch...
Wer würde sie denn vermissen? Niemand. Ihre Eltern hatten sich schon vor langer Zeit von ihr abgewandt, in der gesamten Verwandtschaft galt sie als das schwarze Schaf, das nichts taugte und mit dem man nichts zu tun haben wollte und ihre Kinder waren ihr vor kurzem vom Jugendamt weg genommen worden, weil sie sich nicht mehr richtig um sie kümmern konnte. Sie konnte sich ja nicht einmal mehr um sich selbst kümmern, aber wen interessierte das schon? Freunde hatte sie auch keine, nicht mal virtuelle, also, was sollte es schon? Würde sie wenigstens niemandem mehr zur Last fallen. Niemand musste sich mehr mit ihr abgeben, niemand musste sich mehr um sie kümmern oder gar an sie denken. Und die Kinder, die waren gut aufgehoben. Da, wo sie jetzt waren, ging es ihnen besser. Sie waren noch klein, möglicherweise würden sie sie bald vergessen. Gut für die Kleinen! Dann brauchten sie sich nicht dafür schämen, dass ihre Mutter so eine Versagerin war.
Sie stand auf, ging ins Wohnzimmer, legte sich aufs Sofa, starrte an die Decke und wartete auf den Tod. Nicht als Feind würde er zu ihr kommen, nein, wie einen lieben Freund würde sie ihn willkommen heißen. Wie einen Erlöser. Wie das einzige Glück, das die Welt für sie übrig hatte.Aber der Tod kam nicht. Sie hätte es sich denken können. Nicht mal der wollte sie. Nicht einmal Gott, nicht einmal der Teufel.
Stattdessen meldete sich der Hunger wieder, bohrte schmerzhaft in ihren Eingeweiden. Essen. Sie musste dringend was essen. Aber warum? Warum war sie so schwach und gab dem Hunger nach?
Sie erhob sich, schwankte leicht, weil ihr Kreislauf nicht so wollte wie sie, ging in den Flur und holte ihre Schuhe aus dem Schuhschrank. Als sie sie in der Hand hielt, wurde ihr bewusst, was sie da eigentlich vorhatte. Raus gehen. Die Wohnung verlassen, durch das Treppenhaus...
Ihr Atem wurde keuchend, ihr Herz raste schmerzhaft in ihrer Brust, kalter Schweiß trat ihr auf die Stirn, sie zitterte am ganzen Körper. In ihren Ohren rauschte es und ein prickelndes Gefühl im Kopf kündigte eine nahende Ohnmacht an. Die Brust wurde ihr zu eng, und die Angst schnürte ihr die Kehle zu. War sie denn verrückt geworden? Wie konnte sie auch nur im Traum daran denken, da raus zu gehen?
Eine Viertelstunde hielt dieser Zustand an, dann klang die Panikattacke langsam ab. Leise weinend zog sie Schuhe und Jacke an, dann zögerte sie und zog die Schuhe wieder aus. Es war besser, auf Socken durchs Treppenhaus zu gehen...
Ein paar Minuten lang stand sie, die Türklinke in der Hand, in ihrer Wohnung und lauschte auf die Geräusche ihrer Nachbarn. Verließ auch wirklich niemand seine Wohnung? Zögernd öffnete sie so vorsichtig wie möglich die Tür, lauschte erneut. Stille. Sie machte die ersten langsamen Schritte aus ihrer Wohnung heraus, Körper und Sinne bis zum Bersten angespannt. Leise, ganz leise, steckte sie den Schlüssel außen ins Schloss, drehte ihn leicht und zog sie Tür ganz leise zu. Dann lauschte sie wieder. War sie leise genug gewesen? War auch wirklich niemand auf sie aufmerksam geworden?
Sie wagte kaum zu atmen, als sie langsam die Treppe herunter ging. An jedem Absatz blieb sie stehen. Lauschte. Ihr Herz schlug so heftig und laut, dass sie befürchtete, man würde es durchs ganze Haus hören. Bestimmt kam gleich einer der Nachbarn aus seiner Wohnung gestürmt und schrie sie an, weil sie so einen Lärm machte. Noch leiser sein. Noch leiser atmen. So oft wie möglich die Luft anhalten. Sich so langsam wie möglich bewegen, damit der Stoff der Jacke nicht raschelte, auf Zehenspitzen gehen... Kein Geräusch verursachen, das andere stören könnte. Möglichst gar nicht da sein.
Endlich, endlich stand sie an der Haustür. Eine weitere Herausforderung. Sie presste die Lippen fest aufeinander, dann legte sie vorsichtig die Hand um die Klinke. Lauschte wieder. Als alles still blieb, drückte sie die Klinke herunter, zog die Tür gerade so weit auf, dass sie sich hindurch zwängen konnte, steckte den Schlüssel ins Schloss, drehte ihn leicht und zog die Tür so leise wie möglich zu. Lauschte. Dann bückte sie sich und zog ihre Schuhe an.
Ein paar Minuten lang stand sie da und starrte die Tür an. Was hätte sie in diesem Moment nicht alles gegeben, um einfach wieder in ihre Wohnung schleichen zu können. Statt dessen musste sie sich umdrehen, die Welt betreten, die ihr so feindlich gegenüber stand. Die voller gefährlicher Kreaturen war.
Menschen!
Zitternd saß sie in der Ecke des Badezimmers. Ihr Herz raste, es hämmerte schmerzhaft in ihrer Brust. Ihr Atem ging keuchend, sie hyperventilierte. Ihr Gesicht war kreidebleich, ihre kalten Finger fest ineinandergehakt. Immer wieder wimmerte sie leise, dazwischen flüsterte sie:
"Das geht vorüber, es wird gleich vorbei sein, das geht vorüber, es wird gleich vorbei sein."
Es ging immer vorüber. Aber warum musste es heute passieren? Warum musste es jetzt passieren?Sie wusste es ja.
Sie würde sich wieder selbst überwinden müssen, würde etwas tun müssen, was sie nicht wollte, was aber notwendig war.Sie musste einkaufen gehen. Musste den Schutz ihrer Wohnung verlassen und sich nach draußen begeben. Unter andere Menschen.
Die Wohnung verlassen. Durch das Treppenhaus gehen, das Haus verlassen, die Straße entlang gehen bis zum Supermarkt, den Supermarkt betreten, alle Sachen, die sie brauchte, in den Einkaufswagen legen und sich an der Kasse anstellen, bis sie an der Reihe war. Die Waren aufs Band legen, bezahlen, in den mitgebrachten Rucksack packen und nach Hause gehen. Die Straße entlang bis zum Haus, durch das Treppenhaus, bis sie endlich wieder im sicheren Schutz ihrer Wohnung sein würde. Und bis dahin? Menschen. Andere Menschen. Fremde Menschen. Bekannte Menschen. Menschen. Und Angst. Todesangst. Vor all diesen Menschen.
Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als dieses nicht tun zu müssen. Aber sie hatte keine Wahl. Vier Tage lang hatte sie sich nur von Brot und Margarine ernährt, weil nichts anderes mehr da war. Und gestern Morgen war ihr auch das Brot ausgegangen...
Seitdem hungerte sie. Bis jetzt war ihre Angst größer gewesen als das Verlangen nach Nahrung, aber inzwischen war ihr übel vor Hunger und ihr war leicht schwindelig. Oder lag das an der Angst? Sie wusste es nicht, konnte es nicht unterscheiden. Sie würde warten, bis die Panikattacke abgeklungen war und dann weiter sehen. Vielleicht lag es ja doch nur an der Angst, vielleicht war der Hunger noch gar nicht so arg. Bestimmt war er es nicht. Und wenn doch... ach, dann war das auch nicht so schlimm. Der Mensch konnte eine ganze Weile ohne Nahrung auskommen. Sie konnte ja Leitungswasser trinken. Das würde sicher reichen. Sie war eh zu dick, ein bisschen abnehmen konnte also ohnehin nicht schaden. Genau, sie musste heute gar nicht raus zum Einkaufen!
Zwei Tage später starrte sie verzweifelt in den Küchenschrank. Nichts. Absolut nichts. Nicht der kleinste Krümel Essbares war noch da. Egal wie oft sie nach sah. Der Hunger wühlte schmerzhaft in ihr. Weinend sank sie auf den Küchenboden. Sie wollte nicht raus! Da waren Menschen, da war es gefährlich! Aber ihr blieb keine Wahl. Obwohl... eigentlich doch...
Wer würde sie denn vermissen? Niemand. Ihre Eltern hatten sich schon vor langer Zeit von ihr abgewandt, in der gesamten Verwandtschaft galt sie als das schwarze Schaf, das nichts taugte und mit dem man nichts zu tun haben wollte und ihre Kinder waren ihr vor kurzem vom Jugendamt weg genommen worden, weil sie sich nicht mehr richtig um sie kümmern konnte. Sie konnte sich ja nicht einmal mehr um sich selbst kümmern, aber wen interessierte das schon? Freunde hatte sie auch keine, nicht mal virtuelle, also, was sollte es schon? Würde sie wenigstens niemandem mehr zur Last fallen. Niemand musste sich mehr mit ihr abgeben, niemand musste sich mehr um sie kümmern oder gar an sie denken. Und die Kinder, die waren gut aufgehoben. Da, wo sie jetzt waren, ging es ihnen besser. Sie waren noch klein, möglicherweise würden sie sie bald vergessen. Gut für die Kleinen! Dann brauchten sie sich nicht dafür schämen, dass ihre Mutter so eine Versagerin war.
Sie stand auf, ging ins Wohnzimmer, legte sich aufs Sofa, starrte an die Decke und wartete auf den Tod. Nicht als Feind würde er zu ihr kommen, nein, wie einen lieben Freund würde sie ihn willkommen heißen. Wie einen Erlöser. Wie das einzige Glück, das die Welt für sie übrig hatte.Aber der Tod kam nicht. Sie hätte es sich denken können. Nicht mal der wollte sie. Nicht einmal Gott, nicht einmal der Teufel.
Stattdessen meldete sich der Hunger wieder, bohrte schmerzhaft in ihren Eingeweiden. Essen. Sie musste dringend was essen. Aber warum? Warum war sie so schwach und gab dem Hunger nach?
Sie erhob sich, schwankte leicht, weil ihr Kreislauf nicht so wollte wie sie, ging in den Flur und holte ihre Schuhe aus dem Schuhschrank. Als sie sie in der Hand hielt, wurde ihr bewusst, was sie da eigentlich vorhatte. Raus gehen. Die Wohnung verlassen, durch das Treppenhaus...
Ihr Atem wurde keuchend, ihr Herz raste schmerzhaft in ihrer Brust, kalter Schweiß trat ihr auf die Stirn, sie zitterte am ganzen Körper. In ihren Ohren rauschte es und ein prickelndes Gefühl im Kopf kündigte eine nahende Ohnmacht an. Die Brust wurde ihr zu eng, und die Angst schnürte ihr die Kehle zu. War sie denn verrückt geworden? Wie konnte sie auch nur im Traum daran denken, da raus zu gehen?
Eine Viertelstunde hielt dieser Zustand an, dann klang die Panikattacke langsam ab. Leise weinend zog sie Schuhe und Jacke an, dann zögerte sie und zog die Schuhe wieder aus. Es war besser, auf Socken durchs Treppenhaus zu gehen...
Ein paar Minuten lang stand sie, die Türklinke in der Hand, in ihrer Wohnung und lauschte auf die Geräusche ihrer Nachbarn. Verließ auch wirklich niemand seine Wohnung? Zögernd öffnete sie so vorsichtig wie möglich die Tür, lauschte erneut. Stille. Sie machte die ersten langsamen Schritte aus ihrer Wohnung heraus, Körper und Sinne bis zum Bersten angespannt. Leise, ganz leise, steckte sie den Schlüssel außen ins Schloss, drehte ihn leicht und zog sie Tür ganz leise zu. Dann lauschte sie wieder. War sie leise genug gewesen? War auch wirklich niemand auf sie aufmerksam geworden?
Sie wagte kaum zu atmen, als sie langsam die Treppe herunter ging. An jedem Absatz blieb sie stehen. Lauschte. Ihr Herz schlug so heftig und laut, dass sie befürchtete, man würde es durchs ganze Haus hören. Bestimmt kam gleich einer der Nachbarn aus seiner Wohnung gestürmt und schrie sie an, weil sie so einen Lärm machte. Noch leiser sein. Noch leiser atmen. So oft wie möglich die Luft anhalten. Sich so langsam wie möglich bewegen, damit der Stoff der Jacke nicht raschelte, auf Zehenspitzen gehen... Kein Geräusch verursachen, das andere stören könnte. Möglichst gar nicht da sein.
Endlich, endlich stand sie an der Haustür. Eine weitere Herausforderung. Sie presste die Lippen fest aufeinander, dann legte sie vorsichtig die Hand um die Klinke. Lauschte wieder. Als alles still blieb, drückte sie die Klinke herunter, zog die Tür gerade so weit auf, dass sie sich hindurch zwängen konnte, steckte den Schlüssel ins Schloss, drehte ihn leicht und zog die Tür so leise wie möglich zu. Lauschte. Dann bückte sie sich und zog ihre Schuhe an.
Ein paar Minuten lang stand sie da und starrte die Tür an. Was hätte sie in diesem Moment nicht alles gegeben, um einfach wieder in ihre Wohnung schleichen zu können. Statt dessen musste sie sich umdrehen, die Welt betreten, die ihr so feindlich gegenüber stand. Die voller gefährlicher Kreaturen war.
Menschen!