Hallo, Sternenherz,
ich hatte einen Großvater. Der einer der Kindersoldaten war und mit gefälschtem Altersnachweis in den russischen Winter, in den Krieg geschickt wurde. Er kam aus erzkatholischem Umfeld und aus stockkonservativer Familie. War in der Hitlerjugend.
Dieser junge Mann, fast noch ein Kind, erlebte Dinge, über die er später in meiner Gegenwart nicht sprach. Er trug auch körperliche Spuren - er wurde von einem Schrapnellgeschoss getroffen, der Rücken und die Rückseite seiner Arme waren von Narben übersät. Er bemühte sich sehr, dafür zu sorgen, dass ich das nicht zu sehen bekomme (ich war ja noch ein Kind), aber einmal, wie es bei Kindern so ist, kam ich zufällig dazu, als meine Großmutter ihn gerade mit Franzbranntwein einrieb. Und so sah ich die Narben doch. Die mich natürlich sehr erschreckten - es waren so viele, kleinere und größere.
In seinem rechten Unterarm steckte ein besonders großer Splitter. Den er nicht entfernen lassen wollte. Er sah ihn manchmal an, berührte ihn ab und zu. Dieser Splitter war für ihn ein 'Mahnmal'. Mein Großvater wollte nicht vergessen, weil nicht vergessen werden durfte. Das war seine Überzeugung.
Das meiste erfuhr ich erst später, als ich älter wurde. Von meinen Eltern. Mein Großvater geriet in russische Kriegsgefangenschaft und wurde nach Sibirien transportiert. Er überlebte. Allerdings verlor er mehrere Zehen und zwei Fingerkuppen. Und alle Zähne.
Als Kind wusste ich nichts (das war auch ein Begriff, der sich damals wohl nicht fand) von 'Posttraumatischer Belastungsstörung'. Ich nahm nur wahr, dass mein Großvater sich manchmal bis zur Bewusstlosigkeit betrank. Nie während der Arbeitswoche - nach ihm konnte man die Uhr stellen. Meine Oma musste ihn (sehr nachdrücklich) zurückhalten, als er einmal wirklich krank war und hohes Fieber hatte.
Mein Großvater war ein schweigsamer Mann, manchmal wirkte er auf mich damals auch ein wenig unnahbar. Aber - grob, gewaltätig, nein, überhaupt nicht. Gar nicht, ich hatte überhaupt keine Angst vor ihm. Ganz im Gegenteil. Wenn er am Monatsende seinen Lohn bekommen hatte, ging er zur Bank und nach Abzug aller Fixkosten ließ er sich das Übrige auszahlen - um dieses Geld dann meiner Großmutter zu geben. Und sie gab ihm dann davon sein Taschengeld. Er war der Ansicht, dass ein Mann dazu da war, für die Familie zu sorgen. Auch finanziell, d.h. dafür zu sorgen, dass es an nichts fehlte. Später erzählte mir meine Mutter, dass meine Großmutter zwei, drei Jahre lang gezwungen war, in der Fabrik mitzuarbeiten. Das war für meinen Großvater nicht 'falsch', nein, er dachte nicht, dass eine Frau in die Küche gehörte. Aber es nagte an ihm, weil das seine Aufgabe war und er es als persönliches Versagen betrachtete. Also suchte er und fand eine besser bezahlte Arbeit. Eine härtere und anstrengendere, aber besser bezahlt.
Meine Großmutter hörte sofort auf in der Fabrik zu arbeiten. Weil sie ihn verstand. Und weil sie und mein Großvater sich sehr liebten.
Danach trug meine Großmutter über lange Jahre hinweg Zeitungen aus - das war für meinen Großvater vollkommen in Ordnung, denn das war dann nicht notwendig, sondern ein 'Zubrot'.
Als mein Großvater und meine Großmutter sich kennen lernten, waren da zwei Menschen aus 'verschiedenen Welten'. Meine Großmutter war groß, blond und blauäugig. Das hätte fast zu etwas geführt, vor dem lediglich das Kriegsende sie bewahrte - damals wollten die Nazis eine Art 'Zuchtprogramm für Arier', da waren auch Zwangsehen geplant und meine Großmutter hatte bereits einen Brief bekommen, denn sie passte perfekt ins 'Schema' ...
Außerdem hatte meine Großmutter (eine starke und selbstbewusste Frau) gegen die damaligen Regeln verstoßen - sie hatte ein uneheliches Kind, einen Sohn. Der aufgrund von fehlenden Medikamenten und Nahrungsmangel im Alter von nur eineinhalb Jahren an einer Gehirnhautentzündung starb. Und sie war, um dem ganzen die Krone aufzusetzen, auch noch evangelisch.
Mein Großvater war zudem einen halben Kopf kleiner als sie und hatte dunkelbraune Augen und fast schwarzes Haar. Und, wie gesagt, katholisch. Alles zusammen: Damals ein absolutes 'NoGo'.
Sie verliebten sich ineinander. Daraufhin stellte die Familie meines Großvaters ihn knallhart vor die Wahl: Sie (also meine Großmutter) oder wir! Er entschied sich für sie. Seine gesamte Familie, Eltern und Geschwister eingeschlossen, verweigerten jeden Kontakt, so lange er lebte. Als er starb, kamen sie. Zur Beerdigung. Meine Mutter verwies sie des Friedhofs: "Ihr habt ihn verstoßen, ihr habt nie nach ihm gefragt, euch nie dafür interessiert, wie es ihm geht. Als er noch lebte. Jetzt, wo er tot ist, braucht ihr nicht mehr anzukommen. Verschwindet, macht dass ihr wegkommt!"
Mein Großvater betrank sich nur am Wochenende. Aber dann betrank er sich oft auch sehr schlimm. Ich erinnere mich selbst daran, dass er einmal von zwei anderen Männern nach Hause gebracht wurde, die ihn sturzbetrunken unter einem parkenden Auto gefunden hatten. Im Dorf damals kannte 'jeder jeden'.
Meine Großeltern stritten sich durchaus. Aber dabei ging es immer nur darum. Ich erinnere mich, wie er einmal in der Diele betrunken auf dem Sofa saß und meine Großmutter zu ihm sagte: "Ach, Willi, Willi, was soll das denn mit dir werden? Du machst dich doch kaputt!" Und er sagte (ich erinnere mich nicht mehr genau an seinen Wortlaut, er sprach auch mit sehr schwerer Zunge), ungefähr so etwas wie: "Du weißt warum. Ich kann nicht anders."
Was für ein Mann war mein Großvater also? Eines späten Nachmittags, ich hatte bereits 'gevespert', kam mein Großvater nach der Arbeit nach Hause und meine Großmutter brachte ihm sein Abendessen. Es gab 'Ochsenmaulsalat', ein typisch schwäbisches Gericht. Das ich sehr mochte.
Ich fragte meinen Opa: "Opa, darf ich mir auch noch eine Gabel nehmen?"
Er: "Ja, ja."
Nun, wie es bei Kindern so ist, blieb es nicht nur bei einer Gabel. Nach ein paar davon schob er mir die ganze Schüssel hin, strich mir über den Kopf und meinte zu meiner Großmutter: "Sie braucht das noch, soll sie nur essen - mach mir einfach ein belegtes Brot."
Er wählte jedes Mal bewusst die SPD. Nicht, weil er glaubte, die Politiker dieser Partei wären (als einzelne Politiker oder Menschen) 'besser', sondern weil er der Überzeugung war, dass diese Partei die einzige war, die für ihn Frage kam. Weil das, was damals geschehen war, nie wieder geschehen durfte. Für ihn waren Diktaturen und Kriege die größten Gräuel, die sich die Menschen je ausgedacht hatten. Er war ein überzeugter Sozialdemokrat, durch und durch.
Meine Uroma war sehr gläubig, meine Oma war 'freidenkend-gläubig' und mein Großvater ein Atheist. (Ja, der katholische Junge, Mitglied der Hitlerjugend, Teil eines erzkonservativen Umfeldes, kam als ein Pazifist, Sozialdemokrat und überzeugter Atheist aus dem Krieg wieder zurück.)
Es wurde nie über Religion gestritten. Diese Menschen respektierten sich und damit auch den Glauben oder Nicht-Glauben des/der anderen. Mitmenschlicher Respekt, Akzeptanz, Freundlichkeit, Rücksichtnahme - das sind Werte, die mich in meiner Kindheit prägten. Aber ich lernte auch, dass man nicht schweigt, wenn Unrecht geschieht. Dass man nicht schweigt, wenn etwas - falsch ist. Oder beginnt, in eine falsche Richtung zu gehen. Und das tue ich auch nicht - selbst wenn das unangenehme Konsequenzen für mich haben kann. Das gilt auch für Onlineforen.
Warum erzähle ich diese Geschichte? Weil der Mann, der Großvater im Gedicht, nicht so war wie mein Großvater und meine Großmutter nicht wie die Großmutter darin. Aber ich kann einen Bezug herstellen. Und interpretiere daher anders.
Für mich ist auch der letzte Vers gut und klar zu verstehen. Für mich ist er sehr aussagekräftig und bildet daher auch einen gelungenen Abschluss.
Wer weiß, was dieser Großvater erlebt hatte, was ihn zu dem Menschen gemacht hatte, der er war. Und das trifft auch auf die Großmutter zu.
Ich wuchs unter, selbst für damals, ungewöhnlichen Umständen auf. In einer Großfamilie. Mit Urgroßmutter, Oma, Opa, Mutter und Stiefvater (ja, auch ich war ein uneheliches Kind, bis meine Mutter meinen Stiefvater heiratete).
Ich bin gerne in die 'Vergangenheit gereist', denn ich erinnere ich mich sehr gerne an diese drei ganz besonderen Menschen. Die mich tief geprägt haben. Leider verlor ich sie viel zu früh. Und viel zu kurz hintereinander, in nur vier Jahren. Eines möchte ich noch erwähnen: Als meine Oma an Krebs starb, brach für meinen Opa die Welt zusammen. Er folgte ihr zwei Jahre später. Er erlitt einen Herzinfarkt, aber ich bin mir sicher: Mein Opa starb an gebrochenem Herzen. Ich erinnere mich, wie er einmal zu meiner Mutter sagte, und zwar wirklich hilflos und verzweifelt: "Was soll ich denn machen? Was soll ich denn nur machen, ohne meine Julie?"
LG,
Anonyma